Sunday, August 9, 2015

Bernd Erbel, Orientalist und Ex-Iran-Botschafter von 2009-2014 gibt sachkundig Aukunft

Interview mit dem ehemaligen deutschen Botschafter Bernd Erbel über Iran von Shayan Arkian

"Es ist immer schwierig, ein Bild zu vermitteln, das stark oder sogar diametral von dem abweicht, was der Leser oder Empfänger von Berichten für etabliert und wohlbegründet hält. Dann setzt man sich sehr schnell dem Verdacht aus, nicht mehr objektiv zu sein, vom Gastland vereinnahmt worden zu sein oder, im Extremfall, sogar einer Art von Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein."



Bernd Erbel
Im Folgenden geben wir ein sehr kenntnisreiches Interview mit
Herrn Bernd Erbel, dem ehemaligen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Islamischen Republik Iran wieder.

Der studierte Orientalist führte dieses Amt von 2009 bis 2013. Er war insgesamt 38 Jahre für das Auswärtige Amt tätig, davon 21 Jahre in verschiedenen arabischen Ländern, darunter als Botschafter im Ägypten und im Irak. Durch seine profunden Kenntnisse über den Orient, den er schon während seiner Schul- und Studienzeit bereiste, und sein politisches Engagement als Diplomat vor Ort, hat der mittlerweile 67-jährige einen unschätzbaren Erfahrungs- und Vergleichswert von den Staaten und Gesellschaften dieser Region erworben.

Das Interview greift zunächst die Diskrepanz zwischen den medialen Darstellungen des Westens über Iran und den hiesigen Verhältnissen vor Ort auf. Im weitern Verlauf wird über die historische langjährige Beziehungen zwischen Deutschland und Iran gesprochen. Anschließend werden die religiösen, gesellschaftlichen und politischen Unterschiede Irans zu denen der anderen islamischen und arabischen Ländern behandelt. Zum Ende hin gibt der langjährige ehemalige Diplomat eine interessante Einschätzung zum iranischen Atomprogramm ab.

IranAnders: Herr Botschafter, es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Erlauben Sie mir, mit einer Frage zu beginnen, die ich Iran-Reisenden gerne als Erstes stelle: Inwiefern haben Sie nach zwei Tagen Aufenthalt in Iran ein Auseinanderklaffen zwischen der medialen Darstellung über das Land und den Realitäten vor Ort bemerkt?

Bernd Erbel: In fast jeder Hinsicht. Obwohl ich Iran aus meinen Schüler- und Studentenjahren kannte, war ich nach so langer Zeit doch wieder sehr beeinflusst von all dem, was man in den Medien hört und liest. Bevor ich 2009 meinen Dienst als Botschafter in Iran antrat, reiste ich mit meiner Frau für ein paar Tage nach Teheran, um zu sehen, was wir mitnehmen sollten. Es war im Fastenmonat Ramadan. Und meine Frau, die mit mir über zwanzig Jahre in arabischen Ländern verbracht hat, sagte mir schon am zweiten Tag: „Das ist ganz seltsam, aber ich habe zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten das Gefühl, nicht in einem islamischen Land zu sein.“ Man merkte selbst vom Fastenmonat in Teheran sehr wenig. Die Leute entscheiden individuell, ob sie fasten oder nicht und fühlen sich nicht verpflichtet, etwas vorzutäuschen. Das war eine sehr große Überraschung.

Als wir dann nach Teheran umgezogen waren, habe ich ungefähr fünf Wochen gebraucht, bis ich zum ersten Mal jemanden beten sah. Freitags in Kairo beispielsweise, wo wir vorher auf Posten waren, werden große Straßen für das Freitagsgebet geschlossen und Matten ausgerollt. Das ist in Teheran ganz anders. Die Menschen fahren freitags in die Umgebung, ins Grüne, ins Landhaus oder anderswohin. Und es dauerte auch Wochen, bis wir zum ersten Mal einen vernehmbaren Gebetsruf gehört haben. Auch das war außerordentlich überraschend.

Man stellt sich unter der „Islamischen Republik Iran“ ja immer vor, dass der Islam im Alltag ganz besonders präsent sein müsste. Aber genau das ist er nicht. Die Menschen können fromm sein oder nicht, das ist eine ganz andere Frage, aber die Religion spielt sich nicht in den Vordergrund des Alltags.

Die zweite große Überraschung erlebten wir in den Gesprächen mit den Iranern selbst. Die Iraner erwiesen sich, ganz im Gegensatz zu dem von den Medien verbreiteten Bild, als ausgesprochen offen, interessiert, objektiv, ja weltläufig. Man hat das Gefühl, dass man jedes Thema diskutieren kann, es gibt dafür keine Schranken. Und das Allerwichtigste war, dass die Iraner unglaublich freundlich, hilfsbereit und kultiviert sind. Sie sind sehr interessiert, Kontakt aufzunehmen und zu halten. Also kurzum: Wenn man nach Iran kommt, stellt man nach spätestens 48 Stunden fest, dass in Iran zwar - um ganz korrekt zu sein - nicht alles besser, aber auf jeden Fall alles anders ist als das, was man aufgrund des von den Medien verbreiteten Bildes erwartet.

IranAnders: Sehr interessant. Aber das sind ja eher die Unterschiede auf der gesellschaftlichen Ebene, die Sie zwischen der medialen Darstellung und den Realitäten vor Ort wahrgenommen haben. Wie verhält es sich aber auf der politischen oder offiziellen Ebene: Sie vertraten dort vier Jahre die Bundesrepublik Deutschland und interagierten politisch vor Ort mit den Offiziellen und den Menschen. Haben Sie ebenso in dieser Sphäre Unterschiede zwischen den gängigen politischen Analysen über das Land und den tatsächlichen politischen Verhältnissen vor Ort bemerkt?

Bernd Erbel: Ja, auch in diesem Bereich sind die Verhältnisse ganz anders, als man erwartet. Iran entspricht nicht in jeder Hinsicht einer westlichen Demokratie. Es hat seinen eigenen Charakter. Das System enthält theokratische Elemente, aber ein erheblicher Teil der iranischen Verfassung ist ziemlich ähnlich wie in manchen europäischen Staaten.

In den letzten Jahrzehnten seit der Islamischen Revolution sind alle Präsidenten nach ihrer Amtszeit friedlich und gesetzeskonform aus ihrem Amt ausgeschieden und neue Präsidenten wurden gewählt. Das ist etwas, was man in vielen Ländern so nicht findet. Ferner hat es regelmäßig Wahlen gegeben, ohne dass diese jemals ausgesetzt oder verschoben wurden - trotz Krieg und Sanktionen. Auch das ist ein Phänomen, das bei Ländern in dieser Region selten anzutreffen ist.

Ich will aber nicht sagen, dass immer alle politischen Regeln, die die Iraner sich selbst gegeben haben, eingehalten werden. Iraner klagen auch selbst darüber, dass ihr Rechtssystem zwar recht gut sei, aber eben nicht immer vollständig angewendet wird. Darüber sind sich alle klar, und diese Sicht der Dinge geht bis in die höchsten Kreise der Regierung. Auch im Umgang mit hohen Regierungsvertretern hatte ich das Gefühl, dass die meisten eine kritische Distanz zu den politischen Verhältnissen im eigenen Lande haben, selbst zu der Regierung, der sie angehören. Es ist also keineswegs ein großer Propagandaapparat, der ständig verbreitet, dass alles gut und richtig sei und nichts verbessert werden müsste. Nein, es gibt ausgesprochen viel Selbstkritik, und das bedeutet, dass Gespräche auch mit Offiziellen in aller Regel sehr lohnend und offen sind.

IranAnders: Ihre Berichte müssten aber demnach gänzlich oder teilweise eine andere Lage vor Ort schildern, wie es in Deutschland und im Westen tradiert wird. Kamen Ihre Berichte beim Auswärtigen Amt an?

Bernd Erbel: Es ist immer schwierig, ein Bild zu vermitteln, das stark oder sogar diametral von dem abweicht, was der Leser oder Empfänger von Berichten für etabliert und wohlbegründet hält. Dann setzt man sich sehr schnell dem Verdacht aus, nicht mehr objektiv zu sein, vom Gastland vereinnahmt worden zu sein oder, im Extremfall, sogar einer Art von Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Deshalb muss man sehr abgewogen argumentieren und formulieren. Man wird keinen Erfolg damit haben, das bislang herrschende Bild als simpel falsch zu bezeichnen. Vielmehr muss man dosieren und nach Möglichkeit Fakten so beschreiben, dass der Leser selbst zu der Schlussfolgerung kommt, dass eine Korrektur der bisherigen Bewertung erforderlich ist.

IranAnders: Was haben Sie Ihrem Nachfolger, dem jetzigen deutschen Botschafter Deutschlands in Iran, Herrn Michael von Ungern-Sternberg, empfohlen, um das Land besser kennenzulernen?

Bernd Erbel: Zunächst einmal muss man offen sein für Kontakte, zu erfahrenen ausländischen Kollegen, aber in erster Linie zu Vertretern Irans - und zwar nicht nur auf der offiziellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene, zu Vertretern von Kunst, Wissenschaft und anderen mehr. Und man sollte nach Möglichkeit viel im Land reisen, damit man sich selbst einen Eindruck davon machen kann, wie die Menschen aller Schichten in den verschiedenen Regionen leben. Des Weiteren sollte man sich mit großer Offenheit anschauen, wie die Dinge sind und nicht nur wie sie theoretisch sein sollten.

Es gibt in Iran einen großen Unterschied zwischen dem, was offiziell erlaubt ist, und dem, was es gibt. Deutsche tendieren dazu, zu fragen: „Ist das erlaubt oder verboten?“ Und dann tut man es oder man tut es in der Regel nicht. Iraner fragen eher: „Was ist möglich?“ Und das, was möglich ist, tun sie. Auf diese Art und Weise ist z. B. die Kunstszene unendlich viel reicher, als man sich das von außen vorstellen kann. Gerade moderne Kunst ist faszinierend vielseitig in Iran, und wenn man die Menschen kennenlernt, die dafür stehen, dann merkt man, welcher Geist in diesem Lande herrscht: Dieser Geist ist außerordentlich offen, neugierig, innovativ und ambitioniert. Das übt eine große Faszination aus.

IranAnders: Und was unterscheidet dann aus Ihrer Sicht wesentlich das iranische Volk vom deutschen Volk, und wo liegt die größte Gemeinsamkeit zwischen den beiden Völkern?

Bernd Erbel: Iraner und Deutsche haben eine ganze Menge positive Vergangenheit gemeinsam. Das deutsche Interesse für iranische Kultur und Geschichte, für Literatur, Philosophie und Archäologie ist schon im 17. Jahrhundert erwacht - in der safawidischen Zeit, als deutsche Wissenschaftler erstmals nach Iran kamen. Und die Beschäftigung mit Iran in Deutschland hatte häufig Rückwirkungen auf Iran, indem Iraner Aspekte ihrer eigenen Kultur und Geschichte über deutsche Quellen besser kennenlernen konnten.

Ein weiteres Beispiel ist Goethes „West-Östlicher Divan“. Goethe war schon 65 Jahre alt, als er das im 14. Jh. entstandene Werk des iranischen Dichters Hafez in deutscher Übersetzung las, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass sein Lebensweg nach dieser Lektüre eine neue Richtung nahm. Er beschäftigte sich intensiv mit iranischer Kultur, mit iranischer Dichtung, Philosophie, Geschichte und dem Islam und ließ seine Erkenntnisse in sein Spätwerk, den West-Östlichen Divan einfließen. Diese erstaunliche Entwicklung kann man eigentlich nur damit erklären, dass schon damals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere geistige Verwandtschaft zwischen Deutschen und Iranern vorhanden war.

Ab etwa 1923 gab es dann eine ganz wichtige Phase: die Modernisierung Irans. Damals spielten deutsche Wissenschaftler, Techniker und andere Berater eine enorm große Rolle und trugen innerhalb weniger Jahre entscheidend dazu bei, dass Iran begann, sich von einem sehr rückständigen Land zu einem moderneren Staat zu entwickeln. Die Deutschen hatten damals den Ruf, gute Experten zu sein, die das Interesse Irans nie aus dem Auge verloren, die also nicht für fremde Interessen arbeiteten, sondern ihre Expertise wirklich diesem Land zur Verfügung stellten. Ende der 20er-Jahre spielte es sicherlich auch eine Rolle, dass damals in der Weltwirtschaftskrise viele qualifizierte Deutsche keine Arbeit hatten und froh waren, als Experten anderswo arbeiten zu können. Jedenfalls spielten sie in Iran eine positive Rolle, deren Auswirkungen man bis heute spürt. Ob man über Eisenbahnbau oder über die Berufsschulen spricht - Vieles von den positiven Gemeinsamkeiten geht auf die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück und hat eine starke Basis für die deutsch-iranische Freundschaft geschaffen.

Die Tatsache, dass Iran – was ja "Land der Arier" heißt – in linguistischer Hinsicht zur indo-europäischen, oder wie man früher sagte indogermanischen Sprachfamilie gehört, dass also das zur indo-arischen Untergruppe gehörende Persisch auch mit dem Deutschen verwandt ist, hat damals ebenfalls eine große Rolle gespielt. Linguistik war damals eine Wissenschaft, die sehr viele Menschen fasziniert hat. Wir wissen alle, dass das Wort „arisch“ in Deutschland "verbrannt“ ist; man kann es nicht mehr unbefangen benutzen, weil der Begriff in Deutschland in ungeheuerlicher Art missbraucht wurde. Aber natürlich kann dies nicht heißen, dass Iran, das seinen Namen vom Begriff "arisch" ableitet – sich diesen Schlussfolgerungen anschließen müsste. Dort hat der Begriff eine sehr, sehr viel ältere Wurzel und dementsprechend muss man darauf achten, dass man nicht deutsches Denken, deutsche Komplexe hier in Verbindung bringt mit dem Landesnamen von Iran.

Auch heute gilt, dass sich die meisten Iraner aufgrund dieser historischen Konstellation linguistisch und ethnisch nicht als integralen Bestandteil des Nahen und Mittleren Ostens empfinden. Sie sehen sich oft als "Insel in einem Meer von Arabern, Türken und Mongolen" und fühlen sich eher mit Europa verwandt als mit ihren geographischen Nachbarn. Auch dies, spielt eine gewisse Rolle für die Verbundenheit, darf aber aus den genannten Gründen nicht falsch interpretiert werden.

IranAnders: Kürzlich sagten Sie ja in einem Vortrag in Berlin, dass ihre vierjährige Dienstzeit als Botschafter in Iran zu den besten Jahren von Ihnen und Ihrer Familie gehörten. Nun waren Sie aber auch 21 Jahre als Botschafter und Diplomat in anderen islamischen Ländern tätig. Was unterscheidet Iran von anderen islamischen Ländern, wie z. B. von Ägypten, wo Sie ebenfalls als Botschafter tätig gewesen waren?

Bernd Erbel: Die Iraner sind sicherlich ein frommes Volk, aber sie tragen ihre Religion nicht auf einem Tablett vor sich her. Religion wird kaum diskutiert. In anderen islamischen Ländern wird man sehr häufig auf religiöse Fragen oder die religiöse Zugehörigkeit angesprochen - sei es nun von einem Taxifahrer oder von anderen Menschen, denen man begegnet. Nicht so in Iran. Man wirbt nicht für seine Religion und versucht nicht, andere davon zu überzeugen, dass man die größere Wahrheit besitze. Ich empfinde die Iraner in dieser Hinsicht als ausgesprochen tolerant und liberal.

Es gibt auch einen großen Unterschied zwischen dem Schiitentum und den geistig-religiösen Tendenzen in manchen vorwiegend sunnitischen Ländern, von denen auch die Gesellschaften geprägt sind. Die Schiitentum oder die Schia ist vernunftbetonter und richtet sich weitgehend an den Prinzipien der Rationalität aus. Sie sieht keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft, zwischen Religion und beispielsweise technischem Fortschritt.

Auch die Philosophie ist eine ganz andere. Die Schia sieht beispielsweise kein Problem darin, sich auf bestimmte allgemeingültige Wahrheiten zu beziehen, die von griechischen Philosophen des Altertums ausgesprochen wurden. Dass diese aus vorislamischer Zeit stammen, spielt keine negative Rolle, da Menschen mit ihrem von Gott gegebenen Verstand selbstverständlich auch schon vor dem Erscheinen des Islam in der Lage waren, allgemeingültige Wahrheiten in der Philosophie zu formulieren. Religion und Philosophie ergänzen sich auf diese Weise über die Grenzen der Zeit.

IranAnders: Und wie schlagen sich diese theologischen Unterschiede auf die jeweiligen Außenpolitiken der Staaten der Region nieder?

Bernd Erbel: Wenn wir uns anschauen, welche Rolle religiöse bzw. religiös verbrämte Propaganda in bestimmten Konflikten im Nahen und Mittleren Osten spielt, dann können wir feststellen, dass sich Extremisten weit häufiger auf sunnitisch oder wahhabitisch geprägte Denkschulen berufen (wobei sie diese oft falsch interpretieren) als auf schiitische.

IranAnders: Nun waren Sie auch in einer Zeit Botschafter in Teheran, als dort die Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen 2009 ausbrachen. Wie empfanden Sie diese Zeit?

Bernd Erbel: Ich denke, niemand kann wirklich nachweisen, dass die Wahlen 2009 gefälscht waren oder auch nicht. Was eine größere Rolle spielte, war, dass ein Teil der iranischen Bevölkerung, insbesondere in Nordteheran, mit diesem Wahlergebnis unzufrieden war und das Gefühl hatte, etwas sei nicht mit rechten Dingen zugegangen.

IranAnders: Haben die Unruhen folglich dazu geführt, dass der Westen die Atomverhandlungen mit der iranischen Regierung nicht mehr ernsthaft fortführen konnte?

Bernd Erbel: Die Atomverhandlungen waren ja schon einige Jahre früher begonnen worden und ich glaube, man hätte zu jeder Zeit - auch schon seit 2003 - sehr viel mehr trennen sollen zwischen dem Nukleardossier und anderen politischen Fragen. Wenn das Nukleardossier alles dominiert, ist es sehr schwierig, andere politische Probleme zu behandeln und auch zu Lösungsansätzen zu kommen. Das Nukleardossier hat sich als Flaschenhals erwiesen. Das heißt: Sehr viele andere Dinge, die durchaus Felder der Kooperation hätten sein können, wurden nicht wahrgenommen und nicht genutzt. Es wurde alles auf das Nukleardossier verengt, und das hat sich natürlich unheilvoll auf die bilateralen Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und Iran ausgewirkt.

IranAnders: Nun haben wir seit knapp zwei Jahren einen neuen Präsidenten in Iran. Was hat sich seitdem konkret geändert, dass nun die Verhandlungen mehr oder weniger zu einem Durchbruch es geschafft haben?
Bernd Erbel: Ich würde sagen, es ist in erster Linie der Stil, der sich geändert hat. Denn in der Substanz bot auch die Ahmadinedschad-Zeit durchaus Möglichkeiten, zu Verhandlungsergebnissen zu kommen, aber der Stil von Ahmadinejad hat eine Menge Probleme geschaffen. Ich habe mir sehr viele der Äußerungen von Ahmadinejad genau angeschaut, und ich muss sagen, Ahmadinejad hat noch nicht einmal ein Drittel von dem gesagt, womit man ihn zitiert hat. Andere Äußerungen wurden sehr einseitig interpretiert. Aber es bleibt eine Tatsache, dass Ahmadinejad die falschen Schlussfolgerungen und zum Teil auch bewusst falschen Übersetzungen seiner Äußerungen im Ausland nicht in einer Art und Weise richtiggestellt hat, wie das geboten gewesen wäre. Das heißt, unabhängig davon, was Ahmadinejad nun wirklich im Einzelfall gesagt oder nicht gesagt hat oder wie seine Äußerungen interpretiert werden konnten: Sie haben Iran geschadet.

Als dann Präsident Rohani die Wahl gewann und einen anderen Stil einführte, merkte man, dass diese Veränderung sehr wohl positive Folgen hatte, die nur wenige Monate auf sich warten ließen. Im September 2013 reiste Rohani nach New York zur Vollversammlung der Vereinten Nationen und schon im November wurde das vorläufige Interimsabkommen über die Nuklearfrage geschlossen. Es gab also sehr schnelle Fortschritte.

Aber ich glaube, man muss trotzdem sagen, dass die USA den entscheidenden Positionswandel in der Sache vorgenommen haben. Präsident Obama will in seiner zweiten Amtszeit, in einer Phase, in der er nicht mehr auf seine Wiederwahl hinarbeiten muss, in der er somit auch über mehr Flexibilität verfügt, eines der großen Probleme der Zeit lösen - und zwar auf friedliche und diplomatische und nicht auf militärische Weise. Dieser Wille auf der Seite von Präsident Obama war die entscheidende Veränderung, die dann dazu geführt hat, dass ernsthafte Verhandlungen begonnen wurden.

IranAnders: Die erste Frist für eine grundsätzliche oder politische Einigung läuft nun bis Ende März. Falls es nicht zu dieser Einigung kommen sollte, was würde nach Ihrer Einschätzung geschehen?

Bernd Erbel: Wenn es zu keiner Einigung kommt, wird der US-Kongress verschärfte Sanktionen beschließen. Falls in der internationalen Gemeinschaft allerdings der Eindruck vorherrscht, dass das Scheitern des Abkommens im wesentlichen auf US-Positionen zurückgeht, ist es fraglich, ob sich manche Staaten diesen Sanktionen noch ebenso unterordnen würden, wie dies vorher der Fall war. Auf der anderen Seite würde ein Scheitern dazu führen, dass in Iran die Anreicherung auf 20% wieder aufgenommen würde. Iran könnte sogar theoretisch beschließen, ein atomgetriebenes Schiff zu bauen, wofür man auf 80% angereichertes Uran benötigt. Damit käme Iran der Prozentzahl sehr nahe, die für die Herstellung von militärischem Nuklearmaterial notwendig ist. Das wäre sicherlich eine sehr unheilvolle Entwicklung. Sie würde zwar nicht dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) als solchem widersprechen, aber den Sicherheitsratsresolutionen, die weit über die Erfordernisse des NPT hinausgehen.

In einem solchen Falle würde auch die Kriegsdrohung seitens Israels wieder in den Vordergrund treten. Wir würden zu einer gefährlichen Eskalation zurückkehren, wobei ich davon ausgehe, dass - ganz egal wie weit diese Eskalation gehen würde - Iran nicht versuchen würde, tatsächlich eine Atombombe zu bauen. Hierzu ist Iran nach meiner Einschätzung zu rational, denn das würde eine ungeheure Gefahr für das Land darstellen.

In jedem Fall kann man sagen, dass ein Scheitern der Verhandlungen eine Lose-Lose-Situation hervorbringen würde, während eine Einigung ein Win-Win-Ergebnis zur Folge hätte, das auch im objektiven Interesse der Parteien läge, die jetzt noch eine Lösung zu verhindern trachten.

IranAnders: Teilen Sie also die im Westen kaum in Erwägung gezogene iranische Betrachtung, dass der Besitz einer Atomwaffe der Islamischen Republik schaden würde, weil dies zum atomaren Wettrüsten führt, wodurch ihre momentanen militärisch-geopolitischen Vorteile als auch ihre militärisch-konventionelle Überlegenheit völlig wettgemacht werden?

Bernd Erbel: Es ist sowieso so: Wer eine Atomwaffe besitzt, ist in der gefährlichsten Phase seiner Geschichte. Wer keine Zweitschlagskapazität hat, lebt mit einer Atombombe sehr viel unsicherer als ohne. Das heißt: Es gibt sehr viele rationale Gründe, dies nicht zu tun. Andererseits denke ich, dass die Produktion von Strom und nuklearmedizinischen Produkten allein keine ausreichende Erklärung für das iranische Nuklearprogramm war. Dazu war der Aufwand zu groß.

IranAnders: Aber ist dieser erhöhte Aufwand nicht eher deshalb aufgewendet worden, damit das Land im Zuge der verschärften Sanktionen mehr Verhandlungsmasse generieren kann?

Bernd Erbel: In den Jahren seit 2010 war es ganz sicherlich so, dass die Intensivierung der Sanktionen dazu geführt hat, dass auch Iran an der Schraube, an der es selber drehen konnte, gedreht hat, um den Preis seinerseits zu erhöhen. Aber ich denke, neben den zivilen Nutzungen war es auf längere Sicht Hauptgrund für das Nuklearprogramm, den Beweis dafür zu erbringen, dass Iran trotz Hindernissen und Sanktionen zu höchsten wissenschaftlichen und technologischen Leistungen in der Lage ist und dem Land eine angemessene Rolle in der Region zusteht.

Iran erklärt seit vielen Jahren, dass es keine Produktion von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen anstrebt, da dies gegen Religion und Moral verstoßen würde. Diese Erklärungen allein reichen natürlich für den Westen nicht aus, um das Nukleardossier für gelöst zu erklären. Sie haben aber durchaus starke Wirkungen nach innen, da die iranische Regierung argumentieren kann: Wenn wir eine Übereinkunft schließen, mit der wir unser Nuklearprogramm stark begrenzen, dann tun wir nichts, was wir nicht schon längst angekündigt haben und was wir nicht schon längst für richtig erklärt haben. Denn wir wollen keine Atomwaffen bauen, sondern eben nur das nukleare Potenzial für Energieerzeugung, Nuklearmedizin und verwandte Felder nutzen.

IranAnders: Herr Botschafter, wir sind nun am Ende des Interviews gelangt. Wollen Sie noch etwas zu der deutsch-iranischen Beziehung sagen?

Bernd Erbel: Ja, ich denke, dass Iran und Deutschland, obwohl sie geographisch relativ weit voneinander entfernt sind, ein ungewöhnlich freundschaftliches Verhältnis zueinander haben und durch eine enge geistige Verwandtschaft in der Philosophie, der Dichtung und auf vielen anderen Gebieten verbunden sind. Von iranischer Seite genießt Deutschland großen Respekt und großes Vertrauen, das keinem anderen Land in gleicher Weise entgegengebracht wird. Tausende von Iranern, die als Ärzte, Ingenieure und in anderen Berufen bei uns arbeiten, genießen in Deutschland hohe berufliche und menschliche Anerkennung. Diese über lange Jahre gewachsene Freundschaft und dieses Vertrauen stellen einen historischen Schatz dar, den es unbedingt zu bewahren gilt. Kurzfristige politische Gegensätze oder unterschiedliche Positionen, die unsere Geschichte nicht prägen, dürfen nicht dazu führen, dass die Substanz unserer Beziehungen beeinträchtigt wird. Deutschland und Iran haben sich in der Vergangenheit nie bekämpft, sie waren nie Teile von Allianzen, die gegeneinander gerichtet waren. Und deshalb glaube ich, war es in den letzten Jahren - und ist es nach wie vor - außerordentlich wichtig, alles zu tun, um diesen historischen Schatz von Freundschaft zu erhalten. Denn wenn man etwas Wertvolles geerbt hat, dann sollte man dieses Erbe nicht verlieren, sondern man sollte es bewahren, nach Möglichkeit mehren und es dann an seine Kinder und Enkel weitergeben. Das ist, glaube ich, im Falle von Deutschland und Iran von weitreichender Bedeutung.

IranAnders: Herr Erbel, haben Sie vielen Dank für dieses sehr interessante und ausführliche Gespräch.
  veröffentlicht am 15.03.2015 Quelle: http://irananders.de/nachricht/detail/802.html

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