Liebe Reem,
Du wohnst in einer Straße, die nach dem Dramatiker Bertolt Brecht benannt ist. „Die Wahrheit ist konkret“, sagte Brecht. Und daher berührt uns Deine Geschichte so sehr. Du hast das Leid der Flüchtlinge konkret gemacht, in dem Du uns von Deiner Angst und den Problemen Deiner Familie erzählt hast.
Unzählige Flüchtlinge, von denen jeder einzelne ein Schicksal hat, das von der Grausamkeit dieser Welt und der Ungerechtigkeit der Verhältnisse zeugt, suchen Zuflucht in Europa und finden sie nicht, weil sie abgeschoben werden. Du wehrst Dich zurecht gegen die Abschiebung und erzählst Angela Merkel, wie wichtig es für Dich ist, in Deutschland zu studieren und gern Dein Vater hier arbeiten würde.
Eine Abschiebung nach Libanon, die Abschiebung in ein Land, in dem Palästinenser Menschen zweiter Klasse sind, darf euch Deutschland nicht antun. Wohl nirgendwo sonst außerhalb Palästinas wurden palästinensische Flüchtlinge Opfer so vieler Massaker, Kriege und Diskriminierung wie im Libanon (seit 2011 auch in Syrien).
Das Dialektische im Brechtschen Sinne ist, daß Du als staaten- und heimatloser Flüchtling der Nakba weder ein Bleiberecht in Deutschland hat (was sich aufgrund der für Dich sehr guten Berichterstattung bald ändern könnte), noch in ein anderes Land reisen darfst (wegen der EU-Dublin-Verträge und anderer Einschränkungen), aber auch nicht in Deine Heimat Palästina zurückkehren darfst, weil die Siedlerkolonialisten Dich nicht über die Grenze lassen.
Reem, Dir wird sowohl das Recht auf Rückkehr als auch das Recht zum Bleiben verweigert.
Reem, Du hast den vielen, vielleicht sind es sogar bis zu sechs Millionen, palästinensischen Flüchtlingen der Nakba ein Gesicht und eine Stimme gegeben. Du hast aber auch im Namen aller Flüchtlinge auf dieser Welt gesprochen. Du hast unsere Herzen erreicht, weil Du konkret die Probleme benannt hast: Deinem Vater wird aufgrund diskriminierender Gesetze in Deutschland die Arbeitserlaubnis als Schweißer verweigert, Deine drohende Abschiebung wirkt sich negativ auf Deine Leistungen in der Schule aus. Du könntest noch mehr Einser haben, wenn Du zumindest hier ein Bleiberecht hättest. Zu alledem plagen Dich die Folgen Deines hypoxymischen Hirnschadens. Allein schon deshalb, hast Du das Recht zu bleiben, weil der Libanon Dir keine angemessene medizinische Versorgung bietet.
Reem, Du hast aber auch das Recht zurückzukehren, so wie alle Vertriebenen der Nakba. Deiner Familie und den Nachbarn Deiner Familie in Sa’sa’ wurde durch (überwiegend europäische) Kolonialisten unendlich viel Leid angetan, nicht nur während der Massaker in Sa’sa’ im Februar und im Oktober 1948. Das Haus Deiner Großeltern wurde euch genommen. Ihr tragt bis heute den Schlüssel zu eurem Haus in Sa’sa’ mit euch und ihr tragt die Liebe zu Palästina in eurem Herzen.
Deine Großeltern und Deine Eltern haben von 1975 bis 1990 unter dem Bürgerkrieg im Libanon gelitten, dem auch viele Palästinenser zum Opfer gefallen sind. Reem, Du hast den israelischen Angriff auf den Libanon im Jahre 2006 als fünfjähriges Mädchen. Seitdem hast Du Angst vor dem Krieg. Du sagst: “Ich hatte viel mit Krieg und Unsicherheit zu tun. Deswegen bin ich auch froh hier zu sein, weil es hier viel sicherer ist. Die Angst, die früher einmal war, die ist zwar immer noch in mir, aber solange ich hier bin, werde ich wahrscheinlich die Angst zwar in mir behalten, aber es wird immer besser.”
Liebe Reem, ich wünsche Dir von ganzem Herzen, daß Du und Deine Familie hier bleiben dürfen. Ich wünsche Dir, daß Deine Angst immer weniger wird hier in Deutschland und das Du auch wieder gesund wirst. Ich wünsche allen Flüchtlingen, die wie Du und Deine Familie nach Deutschland kommen, daß sie hier bleiben und arbeiten dürfen und medizinisch optimal versorgt werden. Ich wünsche Dir und Deiner Familie aber auch, daß hier zurückkehren dürft in eure Heimat. Nicht nach Libanon. Nach Palästina. Du sagst: “Nach meinem Tod werde ich in Palästina sein.” Ich wünsche Dir, daß Du zumindest mit einem deutschen Reisepass nach Palästina reisen kannst. Ich wünsche Dir noch viel mehr, daß du mit einem palästinensischen Pass jederzeit nach Palästina zurückkehren kannst und jederzeit von dort aus nach Deutschland reisen kannst.
Mit solidarischen Grüßen
Martin

Am Samstag habe ich Reem Ahmed Sahwil (14) und ihre Familie in einem Plattenbau in Rostock besucht. Es war sehr bewegend. Reem ist ein wunderbarer Mensch, der viel gelitten hat in ihrem jungen Leben. Auf ihren Schultern liegt eine große Last. Sie hat viel Angst vor der Zukunft. Sie ist staaten- und heimatlos. Sie ist sehr krank. Sie mag keine Ärzte, weil sie jede Woche zu ihnen in Behandlung muß. Trotzdem ist sie eigentlich kein weinendes Mädchen, als das sie der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Sie ist ein lachendes Mädchen. Ihr ganzes Wesen lacht. Auch ist sie eine gute Schülerin. Deutsch lernte sie innerhalb eines halben Jahres. Sie hat nur Einsen und Zweien in der Schule, bis auf eine Drei in der Mathematik. Sie lacht und singt gern. Und sie weiß, daß sie in ihrem Leben wohl niemals mehr nach Palästina wird zurückkehren können. Hier ein von mir bearbeitetes Interview mit Reem, geführt am 18. Juli 2015 in ihrer Wohnung in Rostock. Am Ende des Textes finden sich die Videoaufnahmen mit dem Originalwortlaut.
In einigen Zeitungen stand, daß du aus dem Libanon kommst. Fühlst du dich denn als Libanesin oder als Palästinenserin? 
Ich fühle mich als Palästinenserin. Ich bin eine Palästinenserin und ich stehe auch dazu, und ich war auch wütend, sehr wütend, als ich gelesen habe, was in den Medien gesagt wurde, wie geschrieben wurde, daß ich Libanesin sei, denn das stimmt nicht.
Und weißt du wie viele palästinensische Flüchtlinge es gibt?
Ich weiß es nicht genau, jedoch sind es sehr sehr viele.
Ist dieses Recht auf Rückkehr ein Gesprächsthema bei deiner Familie und bei deinen Freunden? 
Auf jeden Fall, es ist ein sehr wichtiges Thema.
Was kannst du dazu sagen?
Ich möchte auf jeden Fall dahin und ich glaube auch daran daß ich auf jeden Fall dahin gehen werde.
Wie war denn die Reaktion bei dir in der Schule auf dein Auftreten?
Sie waren alle beeindruckt, sehr beeindruckt, weil ich so klar und offen geredet habe.
Und wie hat denn deine Familie reagiert?
Sie fanden es toll, daß ich mir so etwas zugetraut habe. Denn sie haben es von mir nicht erwartet.
Ich habe von deinem Vater gehört, daß der Grund wieso ihr nach Deutschland gekommen seid, war, daß die medizinische Versorgung Deiner Erkrankung im Libanon nicht möglich war. Ist es hier besser mit der Versorgung?
Ja, auf jeden Fall, also hier kriege ich alles, was ich möchte in Bezug auf die  medizinische Versorgung.
Wie sehr belastet Dich Deine Erkrankung?
Es ist in letzter Zeit so geworden, daß ich nicht mehr gerne zum Arzt gehe.
Wie oft gehst du denn pro Monat zum Arzt?
Mindestens zwei bis dreimal.
Ich habe gehört, daß du gestern dein Zeugnis bekommen hast. Wie waren deine Noten?
Perfekt. Ich habe vier Einsen; in Deutsch, in Hauswirtschaft, in Musik und im Darstellenden Spiel. Dann habe ich noch vier Zweien, in Geschichte, in Englisch,  in Geographie und in Biologie. Die einzige Drei war in Mathe, weil Mathe mir auch nicht so liegt.
Was möchtest du denn werden später?
Ich möchte gerne Lehrerin oder Dolmetscherin werden.
Magst du denn Sprachen und wie schnell hast du Deutsch gelernt?
Schnell, und zwar innerhalb von sechs Monaten.
Und welche Sprachen sprichst du noch? 
Arabisch und Englisch.
Willst du denn noch andere Sprachen lernen?
Ich würde noch gerne Französisch lernen, was ich auch nächstes Jahr anfangen werde.
Worin unterscheidet sich das Leben im Libanon und in Deutschland außer bezüglich der medizinischen Versorgung?
In der Schule hier sind die Lehrer viel netter und die Sicherheit ist besser.
Wie schwierig ist die Sicherheitslage im Libanon?
Auf jeden Fall sehr viel schwieriger als in Deutschland, weil die Politiker sich immer streiten und sich nie wirklich einig sind.
Hast du denn jetzt auch eine Reaktion von Angela Merkel oder aus der Politik, also bezüglich deiner Zukunftsangst, die Du hast? Hat sich irgend etwas ergeben, irgendeine Lösung von deinem (Aufenthalts-)Problem?
Nein, nicht wirklich, ich habe in den letzten Tagen gehofft, daß es besser wird.
Was ich aber sagen möchte: Frau Merkel war ehrlich, und das finde ich schon mal gut, denn ich mag ehrliche Menschen, das heißt ich mag auch Frau Merkel, da sie ehrlich zu mir war.
Und wenn sie mich angelogen hätte, und mir Hoffnung gemacht hätte, und die Enttäuschung später gekommen wäre, wäre ich noch trauriger und es wäre noch schlimmer für mich gewesen.
War sie realistisch?
Ja, und ich fand ihre Meinung auch in Ordnung.
Und hast du jetzt eine Lösung angeboten bekommen, für dich und deine Familie, also von Seiten der Stadt Rostock zum Beispiel?
Ja ein wenig, ich habe etwas gehört, jedoch habe ich keinen handfesten Beweis.
Also sind es alles nur Ankündigungen durch Hörensagen? 
Ja, aber ich möchte einen richtigen Beweis dafür haben.
Und ich habe gerade mit deinem Vater über Sa’sa’ gesprochen. Weißt du denn woher deine Familie kommt? 
Ja natürlich, das ist ein Dorf in Palästina.
Was ich noch mal fragen wollte, du wurdest ja in einigen Medien als Libanesen dargestellt, obwohl du Palästinenserin bist und in der Diskussion ging es ja um dein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Möchtest du denn nach Palästina zurückgehen? 
Jetzt bin ich erstmal in Deutschland und da bin ich auch froh darüber und ich möchte erstmal hier bleiben, aber für die Zukunft und später nach meinem Leben möchte ich dort zurück. Also nach meinem Tod werde ich dort sein, in Palästina.
Und welche Bedeutung hat Palästina für dich? Oder was hat das Recht für Rückkehr eine Bedeutung für dich? Denn viele Palästinenser erwähnen immer wieder, ein Recht auf Rückkehr zu haben.
Ich bin der Meinung, das Palästina mein Land ist und ich stehe auch dazu, und das ist auch das Land, das für mich viel wichtiger ist als Libanon.
Wird viel diskutiert in deiner Familie oder deiner Umgebung und beteiligst du dich an diesen Diskussionen? 
Ja natürlich. Ich bin zwar nicht dort geboren und meine Eltern auch nicht, aber ich glaube an Palästina und es ist mir sehr wichtig.
Verfolgst du auch die Nachrichten in Palästina? 
Ja natürlich, die Kriege und alles andere.
Möchtest du denn mal dein Heimatdorf besuchen? 
Ja. Ich wünschte, ich wäre dort.

Eine ausführliche Reportage folgt, in der mehr zu lesen ist über das Schicksal des weinenden Palästinenserin, über den Weg ihrer Familie von Sa’sa’ in Palästina, über das Lager im Libanon in einen Plattenbau in Rostock.

15.07.2015, Rostock – Reem Ahmed Sahwil trifft Angela Merkel (zum Zeitpunkt der Begegnung noch 60) bei einem Gespräch mit Jugendlichen an einer Schule für körperlich Beeinträchtigte im Rahmen des Bürgerdialogs „Gut leben in Deutschland“, www.gut-leben-in-deutschland.de
Auf obiger Internetseite heißt es: “Die Bundesregierung möchte mit den Menschen in Deutschland einen Dialog über ihr Verständnis von Lebensqualität führen.
Sie will sich direkt mit den Bürgerinnen und Bürgern austauschen, um sich künftig noch konkreter an dem zu orientieren, was den Menschen in Deutschland wichtig ist.”
In diesem Fall ist es auch das Recht auf Rückkehr, das den palästinensischen Flüchtlingen in Deutschland wichtig ist.
Nachfolgend eine nicht korrigierte Verschriftlichung des Gespräches vom 15.07.2015 im Schulzentrum Paul Friedrich Scheel in Rostock, moderiert durch den KiKA-Moderator Felix Seibert-Daiker:
Reem Ahmed Sahwil: Ich bin Reem, ich bin seit vier Jahren hier an der Schule, neu dazugekommen, ich bin hauptsächlich Palästinenserin, ich komme aus dem Libanon, und bin dazugekommen, und habe mich sehr schnell integriert, das war ziemlich leicht, sich zu integrieren, weil die Lehrer und die Schüler ziemlich nett zu mir waren, ich mag das hier halt. Aber mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass es nicht allen Schülern so geht, dass es auch viele Schüler gibt an manchen Schulen, die ziemliche Probleme damit haben, sich zu integrieren, hier zu leben.
Angela Merkel: Was glaubst Du – liegt es an den anderen Schülern dann oder an den Lehrern oder liegt es an den Schülern selbst, die sich integrieren müssen? Also, was glaubst Du, müsste man da anders machen?
Reem Ahmed Sahwil: Genau, also mein Wunsch wäre, dass die Lehrer und die Schulleiterin oder Schulleiter sich damit mehr beschäftigen und erst einmal gucken, was müssten wir machen, damit sich der Schüler oder die Schülerin wohlfühlt. Weil – ich hatte eine Freundin, sie ist aus einem anderen Land und hat die Schule gewechselt, und ihr geht es überhaupt nicht gut, weil sie nicht akzeptiert wird.
Angela Merkel: Du wirst aber hier akzeptiert?
Reem Ahmed Sahwil: Ja, und da bin auch froh darüber, weil ich möchte das andere Gefühl ehrlich gesagt nicht erleben.
Angela Merkel: Also, ich glaube, dass es bei dir schon sehr gut gegangen ist, es gibt ja – du hast ja auch offensichtlich Deutsch unglaublich schnell gelernt, oder? – ist ja Wahnsinn!
Reem Ahmed Sahwil: Ja, es fiel mir leicht.
Angela Merkel: Vier Jahre bist du hier?
Reem Ahmed Sahwil: Genau.
Angela Merkel: Wer hat dir da geholfen? Deine Eltern?
Reem Ahmed Sahwil: Nein, die Lehrer und ich auch selber, ich liebe Sprachen, Englisch, Französisch, ich kann auch Arabisch sprechen.
Angela Merkel: Das habe ich mir gedacht, irgendetwas musst du ja gesprochen haben damals, bevor du herkamst.
Reem Ahmed Sahwil: Deutsch, Schwedisch kann ich auch ein bisschen, und nächstes Jahr Französisch.
Angela Merkel: Ja gut, nun ist nicht jeder so begabt, würde ich mal sagen, und deshalb ist es mit der Sprache – also erst einmal ist es mit der Sprache das A und O. Zweitens ist es manchmal auch eine Frage, wieviel Kinder sind jetzt dazugekommen. Ich war neulich gerade in Berlin in einer Schule, wo dann sozusagen 95 % Kinder mit einem Hintergrund sind, dass sie aus einem anderen Land kommen, und 5 % sind deutsche Kinder. Dann ist das für die Lehrer natürlich noch sehr viel anstrengender. Und im Augenblick kommen ja auch sehr viele Flüchtlinge, und viele können gar kein Wort Deutsch und da die Integration zu schaffen, das ist nicht ganz einfach. Aber was man sagen muss, ist, dass jeder erst einmal aufmerksam gucken sollte, dass nicht so eine – – – hat sie noch etwas vergessen?
Reem Ahmed Sahwil: Also, mein Vater – ich bin mit meiner ganzen Familie hierhergekommen, und mein Vater hat früher als Schweißer gearbeitet, und jetzt hier in Deutschland – weil wir immer noch nicht die Aufenthaltsbestätigung haben – kann er nicht arbeiten, und gestern haben ganz viele zuhause gefragt, warum ist das denn eigentlich so, dass Ausländer nicht so schnell Arbeit kriegen wie Deutsche? Dann habe (ich) selber überlegt: warum ist das denn eigentlich so? – hab keine Antwort dazu gefunden.
Angela Merkel: Also, ihr habt keinen genehmigten Asylantrag?
Reem Ahmed Sahwil: Also, wir haben jetzt gerade in letzter Zeit eine schwere Zeit gehabt, weil wir kurz davor waren, abgeschoben zu werden und mir ging es hier in der Schule auch richtig schlecht, das haben die Lehrer und Schüler mitgekriegt.
Angela Merkel: Ihr solltet wieder zurück in den Libanon?
Reem Ahmed Sahwil: Ja, genau. Und dann ging es mir halt richtig schlecht.
Angela Merkel: Was ist jetzt passiert?
Reem Ahmed Sahwil: Jetzt ist erst einmal eine Genehmigung da, aber wir waren in Berlin bei der Botschaft, haben die libanesischen Pässe geholt, und jetzt warten wir in der (sic) Ausländerbehörde, bis eine Antwort kommt. Ich möchte auch ehrlich gesagt meine Familie wiedersehen, weil, das ist echt sehr heftig, dass ich seit vier Jahren meine Familie nicht gesehen habe, meine Tante, Oma und Opa. Das ist wirklich eine der Dinge, die mich halt bedrücken.
Angela Merkel: Also, wir wissen, wir müssen ja bei den Asylanträgen gucken, gibt es einen Grund dafür, dass Asyl beantragt wurde. Und was eine Sache ist, die wir jetzt verändern wollen ist – das haben wir jetzt diskutiert auch mit den Bundesländern: wenn jemand vier Jahre hier ist, dann ist es halt sehr schwer zu sagen: so, jetzt hast du schön Deutsch gelernt, bist integriert, jetzt stellen wir fest nach vier Jahren, es ist eigentlich gar kein richtiger Asylantrag. Auf der anderen Seite ist es so, dass viele ja auch – kommst du direkt aus dem Libanon oder eigentlich aus Syrien vorher?
Reem Ahmed Sahwil: Libanon.
Angela Merkel: Libanon gilt jetzt nicht als ein Land, was nun – sagen wir einmal – direkt einen Bürgerkrieg hat. Das heißt, dort leben sehr, sehr viele Menschen, die sind in Flüchtlingslagern auch, die Palästinenser, das sind keine sehr guten Umstände, in denen man lebt, das wissen wir, auf der anderen Seite haben wir Menschen, die sind in noch größerer Not, weil sie vor dem Bürgerkrieg fliehen, und denen müssen wir erst einmal den Asylantrag genehmigen.
Was aber nicht gut ist, ist, wenn es zulange dauert. Und das müssen wir ändern, und da haben wir jetzt mit den Ländern auch darüber geredet, und dann werden wir mal überlegen, wie gehen wir mit denen um, die schon viele Jahre hier sind und immer in so einem Zwischenzustand sind. Und da wollen wir jetzt ein beschleunigtes Verfahren machen, davon könntest du vielleicht auch profitieren, dann sagt man ja oder nein. Aber wir werden nicht alle Menschen, das muss ich auch sagen, die im Libanon in Flüchtlingslagern seit 25 Jahren leben, in Deutschland aufnehmen können, weil wir noch sehr, sehr viele haben, die direkt aus dem Kriegsgebiet kommen.
Reem Ahmed Sahwil: Mich beschäftigt die Frage – also ich bin ja jetzt hier, lebe zwar, aber ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht, solange ich nicht wirklich weiß, dass ich hier bleiben kann.
Angela Merkel: Ja, das ist klar, deshalb muss das jetzt einer Entscheidung zugeführt werden, und das, was wir uns vorgenommen haben, wenn wir sagen, was soll sich ändern, (ist), dass ein Mensch wie du nicht weiter vier Jahre erst hier ist, und dann entscheidet man. Das muss sich ändern.
Reem Ahmed Sahwil: Ich habe ja auch Ziele, so wie jeder andere, ich möchte studieren, das ist wirklich ein Wunsch und ein Ziel, das ich gerne schaffen möchte. Es ist wirklich sehr unangenehm, zu zusehen, wie andere das Leben genießen können und man es selber halt nicht mitgenießen kann.
Angela Merkel: Ich verstehe das und dennoch muss ich jetzt auch – das ist manchmal auch hart, Politik – so, weil du jetzt vor mir stehst, und du bist ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch tausende und tausende und wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen und ihr könnt alle kommen, das können wir auch nicht schaffen. Und da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt und die einzige Antwort, die wir sagen, ist, dass es bloß nicht so lange dauert, bis die Sachen entschieden sind. Aber es werden manche auch wieder zurückgehen müssen.
Felix Seibert-Daiker: Wäre doch schön, wenn Sie das Gesicht von Reem mitnehmen in Zukunft und immer, wenn Sie über das beschleunigte Verfahren reden, rufen Sie sich noch einmal das nette Gesicht ins Gedächtnis, und das spornt dann an, Frau Bundeskanzlerin.
Angela Merkel: Schneller zu handeln oder…?
Felix Seibert-Daiker: Das aktiv auf den Weg zu bringen.
Angela Merkel: Da sind wir dabei, da sind wir jetzt wild entschlossen, weil das nicht geht, wir haben so viele Familien, wo die Kinder dann in die Schule gehen, das müssen wir verändern.
Felix Seibert-Daiker: Kann man da einen Zeitraum abstecken? „Wild entschlossen“ bedeutet?
Angela Merkel: Ja, ich denke, dass wir innerhalb eines Jahres jetzt all die Fälle…
(Angela Merkel bemerkt, daß Reem Ahmed Sahwil zu weinen begonnen hat, unterbricht ihre Ausführung und wendet sich ihr zu, um sie zu trösten.)
Angela Merkel: Du hast das doch prima gemacht.
Felix Seibert-Daiker: Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums prima machen geht, sondern dass es natürlich eine sehr belastende Situation ist.
Angela Merkel: Das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist, und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln, weil wir euch nicht in solche Situationen bringen wollen, und weil du es ja auch schwer hast und weil du aber ganz toll dargestellt hast für viele, viele andere, in welche Situationen man kommen kann.
Felix Seibert-Daiker: Diesen Wunsch wollten wir Ihnen mit auf den Weg geben.
Angela Merkel: Ja, das haben wir ja auch sinnvollerweise besprochen und sie ist leider nicht die einzige, die in einer solchen Situation ist. Auf der anderen Seite haben wir heute zum Beispiel gerade im Kabinett, als wir uns als Regierung getroffen haben, darüber gesprochen – wir haben jetzt inzwischen fast 6000 oder 7000 junge Menschen, die noch nicht 18 sind, die ganz alleine als Flüchtlinge kommen, und wo sich auch dann der Staat darum kümmern muss und sich natürlich auch kümmert -, wie wir dann die verschiedenen Bundesländer mit einbeziehen und das tun wir schon und wollen wir auch. Und trotzdem ist es auch so, dass uns das noch einmal bewusst macht, das es woanders auf der Welt längst nicht so schön ist wie bei uns, und dass es so viele Menschen gibt, die unter so schrecklichen Bedingungen leben müssen. Und ich meine, es gehört schon dazu, das muss man auch sagen, dass der Konflikt zwischen Israel und Palästina und den arabischen Staaten bis heute nicht gelöst ist…
Weiterführende Informationen zu Merkels Begegnung auch mit den anderen Schülern finden sich unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/07/2015-07-13-gut-leben-buergerdialog.htmler Familie von Sa’sa’ in Palästina, über das Lager im Libanon in einen Plattenbau in Rostock.