Monday, May 25, 2015

UNSER LENINGRAD von André Vltchek

Die Einsamkeit eines Internationalisten 
Aus dem Englischen und Spanischen von Einar Schlereth

Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.“ Dies ist in Gold in den Granitstein graviert, direkt hinter der Statue des Mutterlandes (im Russischen heisst es statt Vaterland eben Mutterland und nicht wie bei Wikipedia 'Mutter Heimat'. D. Ü.), die ihre Arme in Kummer ausbreitet. Der Piskariovskoye-Gedenkfriedhof liegt in der Stadt St. Petersburg mit 186 Massengräbern und etwa einer halben Million dort begrabenen Menschen, einschließlich des größten Teils meiner Familie von der mütterlichen Seite.
Im 2. Weltkrieg hat die Stadt Leningrad 900 Tage lang (zweieinhalb Jahre) standgehalten und einer der furchtbarsten Belagerungen in moderner Geschichte getrotzt
Sie stoppte den Vormarsch der Nazi-Truppen, widerstand dauernden Luftbombardements, bitterer Kälte, Hunger und dem Mangel an dem Allernotwendigsten. Beinahe die Häfte der Bevölkerung verschwand – von Bomben verbrannt, in Schützengräben erfroren und in ungeheizten Wohnungen oder verhungert.

Die kulturelle Hauptstadt Russlands gab ihr Äußerstes: sie erhob sich trotzig und mutig und spielte eine bedeutende Rolle bei der Besiegung des Nazismus und damit der Rettung der Welt.
Und das, während der größte Teil des Westens entweder mit dem Nazismus kollaborierte oder ihn zu „beschwichtigen“ versuchte.
Natürlich hat die UdSSR im allgemeinen und Leningrad im besonderen nicht die Welt gerettet, die der weißen Rasse gehört; sie retteten die Welt der 'Nicht -Menschen' laut den deutschen Faschisten, der auszulöschenden Wesen: Menschen des indischen Sub-Kontinents, Afrikaner, Juden, Roma, Slawen, Araber und die meisten der Asiaten.
Und durch die Zerschmetterung des Faschismus erhielt auch der Kolonialismus einen entscheidenden Schlag (da Faschismus und Kolonialismus aus demselben Stoff sind), was dutzenden Ländern in Asien und Afrika ermöglichte, die Unabhängigkeit zu gewinnen und die Freiheit. Zumindest für eine Zeit; zumindest, bis es den westlichen Ländern gelang, sich neu zu formieren.
Dies wurde natürlich in den europäischen und nordamerikanischen Hauptstädten niemals verziehen. Die Sowjetunion und alle ihre Ideale und Prinzipien mussten durch den Dreck gezogen und verteufelt werden. Obwohl sie die Welt vor dem Nazismus rettete, wurde es üblich, sie mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen, und viele progressive westliche Intellektuellen übernahmen dieses verdrehte und beleidigende Urteil.
Als ich mich auf eine Bank nahe der Statue des Mutterlandes setzte, war ich in Gesellschaft von Artem Kirpichenok, einem der führenden russischen Historiker; ein Jude, der 15 Jahre lang in Israel lebte, aber beschloss in seine Heimatstadt St. Petersburg zurückzukehren, nachdem er desillusioniert wurde durch den Rassismus und die institutionalisierte Diskriminierung der Minoritäten in dem jüdischen Staat. 
Es ist unglaublich, dass es der westlichen Propaganda gelang, die meisten Menschen in der Welt glauben zu machen, dass der Nazismus und der sowjetische Kommunismus vergleichbar sind“, sagte ich. „Selbst einige progressive Intellektuelle sprechen beide 'ismen' in einem Atemzug aus.“
Nazi-Deutschland, genau wie England, die USA und Frankreich basierte auf der rassistischen und kolonialistischen Denkweise, den weithin akzeptierten Prinzipien in der westlichen Bourgeoisie in den 30-er Jahren“, äußerte Artem Kirpichenok. „Hitler baute sein Imperium in Osteuropa nach dem britischen kolonialen Muster in Indien. Die Nazi-Rassen-Theorien unterschieden sich nicht allzusehr von dem Rassismus in dem Süden der USA oder von den Rassentheorien der französischen, belgischen, britischen oder holländischen Imperien, die in den Kolonien errichtet wurden. Der Kollaps des Dritten Reiches hat all diesen Idealen des Kolonialismus und Rassismus einen harten Schlag versetzt. Und der Sowjetunion konnte man hauptsächlich „die Schuld“ an diesem Kollaps geben. Die ideologische Basis der europäischen Dominanz über Asien, Afrika und Lateinamerika war beschädigt worden.“
Das konnte natürlich nie verziehen werden.
***
Während der Belagerung hob meine Großmutter in den Vorstädten der Stadt Schützengräben aus. Sie kämpfte gegen die Deutschen und wurde für ihren Mut mehrere Male ausgezeichnet. Ich habe keine Idee, wie sie es anstellte, wie sie es schaffte, zu kämpfen und zu überleben – sie war so liebevoll, zerbrechlich und sehr scheu. Viele Jahre nach dem Krieg, Jahre nach meiner Geburt, wenn sie mir Gedichte und Märchen vorlas, fand ich es schwierig, mir vorzustellen, dass sie eine Kalashnikov in der Hand hielt, Handgranaten oder selbst nur eine Schaufel. Aber das tat sie; sie kämpfte und sie war bereit zu sterben für das, was sie damals für eine epische Schlacht für das Überleben der Menschheit hielt. Und sie war sehr nahe dran, bei mehreren Malen zu sterben.
Sie war eine christlich-orthodoxe Dame, aber auch eine überzeugte Befürworterin des Kommunismus, eine seltene Kombination. Sie heiratete meinen Großvater, ein brillanter Moslem aus der chinesischen Minorität in Kasachstan, namens Husain Ischakov, ein Linguist und ein Gesundheitskommissar und später für die Nahrungsmittelversorgung (im Grunde ein Minister-Posten in der alten Zeit) zuständig.
Was folgte, war ein Abschnitt, der direkt aus der westlichen Propaganda hätte geholt sein können. Mein Großvater fiel bei Stalin in Ungnade, wurde verhaftet und erschossen. 1937 (die früheste Erinnerung, die meine Mutter aus ihrer „Kindheit“ hatte) beugte sich dieser große und elegante Mann über die Wiege, nahm meine Mutter in seine Arme und drückte sie an seine Brust, bevor er von den staatlichen Agenten weggeführt wurde, in die Vergessenheit und die Ewigkeit. Er weinte, als er in ihr Gesicht schaute; er wusste genau, was ihm bevorstand. Er kam niemals wieder.
Meine Großmutter kämpfte. Sie wurde dekoriert. Aber nichtsdestoweniger wurde sie, als der Krieg vorbei war, verhaftet und ins Gefängnis geworfen, weil sie „einen Staatsfeind geheiratet hatte“. Sie verbrachte Jahre im Gefängnis, während meine Mutter, praktisch ein Waisenkind, die Hölle durchmachte. Als meine Großmutter entlassen wurde, sagte sie zu meiner Muter: „Es war so furchtbar, dass ich dachte: noch zwei Wochen und ich hänge mich dort auf.“ Aber sie betrog niemals meinen Großvater: sie hätte nur unterschreiben brauchen, dass sie „bedauerte“, ihn geheiratet zu haben. Das tat sie nicht. Offensichtlich war ihr ihre Treue zu ihm wichtiger als ihr Leben. 
Sie verließ das Gefängnis, immer noch eine orthodoxe Christin und immer noch Kommunistin!
Der Name meines Großvaters wurde schließlich „rehabilitiert“; er wurde postum wieder zu einem „Helden“ gemacht. Über ihn wurden Bücher geschrieben und meiner Mutter wurde erlaubt, Architektur zu studieren.


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Was meiner Familie passierte, war natürlich brutal und furchtbar. Und zu behaupten, dass die UdSSR eine Art Paradies auf Erden war, würde verrückt sein.
Aber wir sprechen über die 30-er und 40-er Jahre. Und in dem Zusammenhang war die UdSSR definitiv humaner als das westliche Europa und die USA. Das zu bestreiten, hieße, die elementarsten Statistiker zu leugnen.
Lass uns vergleichen“, wurde mir mehrfach von dem größten südostasiatischen Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer gesagt, der ungezählte Male für den Nobelpreis nominiert wurde, aber ihn nie bekam, weil er, anders als Solschenizyn, im falschen, pro-westlichen KZ eingesperrt war. „Lass uns daran denken, dass alles in einem historischen Kontext passiert.“
Der westlichen Propaganda gelang es, einige ungeheuer effektive Lügen, Halbwahrheiten und direkte Erfindungen in Gang zu setzen, die weder geprüft noch diskutiert werden konnten (nicht, dass die meisten Leute es überhaupt versuchten): die Zahl der Opfer in den Gulags wurden übertrieben und die Zahlen der politischen Insassen und der gewöhnlichen Verbrecher wurden regelmäßig in einen Topf geworfen (in der Stalin-Ära mussten alle Verurteilten arbeiten in einer Art Arbeitslager mit furchtbaren Bedingungen, da das Land noch arm war. Viele Gefangene kamen nie wieder.)
Manche Mitglieder der sowjetischen und militärischen Elite (einschließlich mein Großvater) wurden erschossen. Aber geschah das wegen „Stalinistischem Terror“? Viele Analytiker (russische, chinesische u. a.) behaupten jetzt, dass der Nazi-Spionage-Apparat die sowjetische Spionage stark unterwandert hatte. Deutschland wollte die talentiertesten, loyalsten und tolerantesten Sowjet-Führer und Generale los werden. Sie identifizierten sie und begannen dann die schädlichsten, aber erfundenen Informationen über ihre Abtrünnigkeit zu verbreiten. Mein Großvater z. B. wurde unter der Anklage, „für Japan zu spionieren“ erschossen, eine lächerliche, aber irgendwie „logische“ Anklage, da er Linguist war und mehrere asiatische Sprachen sprach.
Darüberhinaus hatten Stalin und seine Umgebung genug, worüber sie „paranoid“ werden konnten: die Feindschaft des Westens gegenüber dem jungen kommunistischen Staat war offensichtlich. Die UdSSR wurde von den USA, England angegriffen und von brutalen tschechischen Legionen und anderen Invasionsmächten verwüstet.

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Jeder mit einer Spur von Objektivität müsste zugeben (wenn er oder sie nicht das grundlegende Prinzip des Humanismus leugnet, das besagt, dass alle Menschen gleich sind, egal welcher Rasse und/oder Nationalität), dass die kommunistische Sowjetunion viel weniger Verbrechen als die westlichen Länder unter dem Banner „konstitutioneller Demokratien“ oder „Viel-Parteien-Demokratien“ begangen hat.
Während die Sowjets damit beschäftigt waren Dutzende Millionen aus der Armut zu reißen (und wir sprechen z. B. über die Moslems im Nahen Osten, die Gebiete, wo der Lebensstandard am Ende dem des europäischen Teils Russland entsprach, aber auch von den zahllosen Minoritäten, die im riesigen Russland lebten), in einem Gebiet etwa von der Größe Kongos, wo die Belgier es fertig brachten, 10 Millionen Menschen zu töten, die Hände abzuhacken und Frauen und Kinder lebendig in ihren Hütten zu verbrennen.
Die Deutschen begingen einen monströsen Genozid (oder nennt es Holocaust) an den Hereros in Namibia, aus keinem anderen offenbaren Grund, als dass sie ihnen nicht passten. Die ersten Konzentrationslager auf Erden wurden vom britischen Imperium in Afrika gebaut; und der französische koloniale Ansturm in Südostasien, in West- und Nordafrika und sonstwo ist gut dokumentiert. Die Holländer plünderten, vergewaltigten, töteten und bereicherten sich in dem großen Archipelago, der jetzt Indonesien genannt wird. 


Die Genozide, Massenmorde und der Terror, die vom Westen in der übrigen Welt verübt wurden sind zahllos, aber natürlich wenig berichtet, da „Auslandshilfe“ für Erziehung und Medien es fertigbrachte, Kollaborateure in der armen Welt zu trainieren und zu disziplinieren, um sicherzustellen, dass die Wahrheit über die Vergangenheit im allgemeinen unter den Tisch fällt.
Selbst das Ende des 2. Weltkrieges brachte kein Ende der bestialischen Behandlung der „Eingeborenen“ durch die europäischen und nordamerikanischen Kolonialisten. Man sollte sich erinnern an die Behandlung der Menschen im Nahen Osten durch Winston Churchill und andere verherrlichte britische Führer. All dies ist natürlich gut dokumentiert, selbst in den Büchern von Winston Churchill, aber wird selten erwähnt von den disziplinierten und verlässlichen Mainstream-Medien und der Akademikerwelt, sowohl in den kolonisierenden als auch den kolonisierten Ländern.
Es gibt ungezählte Statuen von Winston Churchill oder dem belgischen König Leopold II in allen Hauptstädten Europas. 
In der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts, während des sogenannten „Kalten Krieges“, stand die Sowjetunion fest an der Seite der Unterdrückten, auf der Seite der Befreiungskämpfe für Freiheit in Afrika, Asien und Lateinamerika. Man fragt sich, wie mächtig die Propaganda gewesen sein muss, die all dieses in Vergessenheit fallen ließ?
Während Europa und die Vereinigten Staaten (und ihre konstitutionellen Monarchien und Viel-Parteien -“Demokratien“) Despoten im Iran, Ägypten, dem Golf, dem Nahen Osten, Südvietnam, Kambodscha, Südkorea, Chile, Argentinien, Guatemala, Nicaragua, Uruguay, der Dominikanischen Republik, Haiti, Brasilien, Kenya, Südafrika, Indonesien und vielen anderen unglücklichen Plätzen kultivierten, stand die Sowjetunion an der Seite der kubanischen, nicaraguanischen, tansanischen und nordvietnamesischen Revolutionen, unterstützte deren Führer, wahre Helden und Befreier wie Patrice Lumumba und Präsident Salvador Allende.
Und wir beide – Noam Chomsky und ich – kamen zu dem Schluss bei unserer jüngsten Diskussion am MIT, dass der Lebensstandard in Riga, Prag oder Ostberlin höher als in Moskau sein durfte, während der in Taschkent oder Samarkand nur geringfügig niedriger war. Der Lebensstandard in den Kolonien und den Klienten-Staaten des Westens war zehnmal, zwanzigmal, selbst hundertmal niedriger als der in Washington, Paris oder London, was oft zum Verlust von Millionen Menschenleben führte.

Ich schätzte, dass etwa 55 Millionen Menschenleben seit dem 2. Weltkrieg als Ergebnis des westlichen Kolonialismus, Neo-Kolonialismus, direkten Invasionen, gesponserten Staatscoups und anderen Akten internationalen Terrors verloren gingen. Ich unterschätze wahrscheinlich sehr stark die Zahl, da es ja auch verlorene Menschenleben durch Hungersnöte, furchtbares Mismanagement und das direkte vom westlichen Imperialismus verursachte Elend gibt. 
Dutzende Millionen Menschenleben gingen ferner verloren als Ergebnis der furchtbaren Saat, die vom Imperialismus und dem Kolonialismus gesät wurde, wovon das sichtbarste Beispiel die Teilung des indischen Subkontinents ist.
Ich würde vorschlagen, dass, statt Faschismus mit dem sowjetischen Kommunismus zu vergleichen, die Linke und die ganze denkende Welt anfangen solltre, das zu vergleichen, was wirklich vergleichbar ist: der Faschismus, der westliche Kolonialismus und der Markt-Fundamentalismus (der gewalttätigste und fundamentalistischste Glaube heute auf Erden), der von westlichen Multi-Parteien-Systemen und „konstitutionellen Monarchien“ bedient und repräsentiert wird. 

***
Wenn ich eine neue Person treffe, was sehr häufig vorkommt, dann ist für mich die gefürchtetste Frage die einfachste und natürlichste Frage: „Wo kommst du her?“
Ich weiss nicht, was ich sagen soll, ich kann nicht antworten und selbst wenn ich könnte, würde die Antwort zu unscharf, zu komplex und zu philosophisch sein. Und obendrein, falls ich mich entscheiden würde für eine lange und detaillierte Antwort, würde die Information, die ich gäbe, nicht sehr genau sein.
Ich bin ein geschworener Internationalist, aber das wird von der Mehrzahl der Leute, die ich treffe, nicht als eine Identität angesehen.
Meine Interviewer und Rezensenten wählen häufig Prag, die ehemalige Tschechoslowakei oder das heutige Tschechien als meine Identität, aber das ist gründlich falsch. Prag war niemals meine Heimat. Die Tschecholowakei war das, wo ich eine höllische Kindheit verbrachte, wo im Winter mir meine Schuhe mit Urin gefüllt wurden und sie die Kerle vor der Schule oder dem Gymnastiksaal gefrieren ließen, eine der zahllosen Strafen dafür, dass ich eine „asiatische Mutter“ hatte. Das ist der Ort, wo ich nach jeder Klasse um mein Leben kämpfen musste, ab dem Alter von sechs Jahren, weil meine Mutter nicht nur halb asiatisch war, sondern auch noch halb russisch. 
Meine wahre Identität ist überall verstreut: sie liegt tief und hoch in den Anden von Peru und Bolivien, wo ich mehrmals dem Tod ins Auge schaute, als ich über den „schmutzigen Krieg“ Perus schrieb. Sie liegt in Chile, wird reflektiert von den engen, sich windenden und oft heimgesuchten Gassen der Hafenstadt Valparaiso, sie liegt bei den chilenischen Dichtern und den Liedern der Fischer an der Küste. Mein Identität ist zerstreut in den gewaltigen Gewässern des Süd-Pazifik, der übersät ist mit winzigen Landflecken – jetzt Insel-Länder – die von den traditionellen Kolonialmächten kolonisiert und gründlich zerstört wurden.
Meine Identität reicht von der Swahili-Küste Afrikas bis rund um die großen Seen des Kontinents, zu all den Plätzen, die den schlimmsten Genozid der modernen Geschichte durchmachten, ein Genozid, der von den europäischen und nordamerikanischen politischen und ökonomischen Interessen entfacht wurde. Meine Identität liegt auch in den Wüsten des Nahen Ostens, und wenn ich nur den Sub-Kontinent etwas besser kennte, würde sie auch dort liegen. In bin zuhause in Havana, Caracas, Buenos Aires, Onomichi, Beijing, Kapstadt und Kuala Lumpur. Und ich lebe auch in Japan, Indonesien und Kenya.
Es ist ein totales Durcheinander, ich weiss, es ist sehr verwirrend und ich kann es nicht erklären, aber es ist so. 
Jahrelang, selbst Jahrzehnte lang, war meine Heimat dort, wo der Kampf für Gerechtigkeit und Unabhängigkeit tobte; ich habe Bücher und Artikel geschrieben, Filme gemacht oder wurde direkt in den Kampf verwickelt. Ich kann kaum meine Rasse, Kultur oder nationale Identität ausmachen, und ich versuche es auch gar nicht erst. Ich gehe hin, wo ich gebraucht werde. Und am Ende auch, wie Garcia Marquez schrieb: mein Heim ist, wo man meine Bücher liest.

***
Geboren wurde ich in Russland, in Leningrad (tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht St. Petersburg nennen, wie es jetzt genannt wird, es wird für mich immer Leningrad bleiben). Ich habe niemals dort gelebt, weil meine Eltern mich mit in die Tschechoslowakei nahmen, als ich erst wenige Monate alt war. Aber jedes Jahr setzte mich meine Mutter in ein Flugzeug, eine jener alten sowjetischen Tupolew-Maschinen mit Mahagoni-Tischen, Lampenschirmen und schwarzem Kaviar, der auf allen internationalen Flügen serviert wurde, mit nur einer einzien Klasse, um mich nach Leningrad zu schicken, wo meine Großmutter auf mich warten würde, mit einem Schlüsselbund für ein einfaches gemietetes Zimmer an der Finlandbucht, ein Zimmer, das für mich wie ein Paradies war. Meine Großmutter hatte immer einen Packen mit Eintrittskarten und Pässen für die Oper, das Ballet und Kunstausstellungen. In den kommunistischen Zeiten kosteten sie nichts, waren aber schwer zu bekommen.
Und sie hatte Berge von Büchern, die auf mich warteten. Sie musste sie mir vorlesen, obwohl ich selbst lesen konnte. Sie las bis spät in die Nacht und wenn es draußen regnete, waren das besonders magische Augenblicke.
Vom Moment an, wo ich Leningrad verließ, begann ich die Tage zu zählen, die bis zu meiner Rückkehr vergingen. Ich hatte mein besonderes geheimes Buch, in dem ich jeden Tag, der ging, verzeichnete. Das kalte tiefe Wasser der Newa, ihre Brücken, die offenen Plätze, die Schönheit dieser ehemaligen russischen Hauptstadt, die so oft in Nebel gehüllt war, das Pathos der russischen und damals sowjetischen Geschichte, das Pathos der Geschichte meiner eigenen Familie – all das fesselte meine Sinne, ließ mich träumen, machte mich frühzeitig erwachsen. 
In der Tschecholowakei vermisste meine Mutter Russland furchtbar. Sie weinte fast jede Nacht. Auch sie las mir Bücher vor und eine Menge Gedichte.
So hatte ich keine eigentliche Kindheit, aber beide Frauen schafften es, aus mir einen Schriftsteller zu machen und in einem sehr frühen Alter. Ich erbte ihren Kampf, ihre 900-tägige Belagerung, ihren Krieg, ihr Russland.
Beide Frauen reichten alles an mich weiter, aber nicht einfach nur das Leiden, die Gefängnisse und die Kriege sondern auch große Hoffnung, die Fähigkeit zu träumen, Enthusiasmus, Optimismus und eine große Solidarität. Sie lehrten mich, dass man immer aus dem Nichts aufbauen konnte oder aus der Asche neu bauen konnte. Und diese Liebe, wenn sie wahre Liebe ist, ist nicht etwas, was verschwindet, es verflüchtigt sich nicht in einem Monat und nicht in vielen Jahren.
Sie reichten mir auch ihre Liebe für ihre Stadt weiter; ihre verlorene aber niemals vergessene Liebe.
***
Jetzt, nach all diesen Jahren, kam ich zurück nach Leningrad. Mittlerweile war ich mehr Lateinamerikaner oder Asiate als Russe. Meine Muttersprache fühlte sich plötzlich so schwer und rostig an: meine Aussprache war zwar immer noch perfekt, aber die Sprache war archaisch und über-höflich.
Ich kam erschöpft zurück, nachdem ich mein großes Buch in London vorgestellt hatte – das Buch über Indonesien und wie der Westen das Land nach dem US-gesponserten Coup von 1965 ruiniert hat. Ich kehrte zurück, nachdem ich gerade meinen 160 Minuten Dokumentarfilm über den Genozid in der Demokratischen Republik Kongo beendet hatte und nachdem ich in Uganda und dann an der türkisch-syrischen Grenze gearbeitet hatte.
Ich fühlte mich einsam und sehnte mich verzweifelt nach jemandem, den ich mochte, um meine Geschichte zu erzählen. Aber es ergab sich, dass niemand in Leningrad zu mir stieß.
Ich wanderte durch die Straßen, so vertraut und so fremd.
Ich lief zur alten Bucht in Zelenogorsk, aber sie hatte sich verändert; die Marina war voller Privatboote und Yachten, statt meinen alten Schleppern und Patrouillen-Booten.
Ich ging den Wald besuchen, wo der tote Körper meines Großvaters aus dem Zug geworfen worden war. Jetzt ist es der Gedenkfriedhof, tatsächlich ein Gespenster-Wald, in dem Namen und Fotos an Bäume genagelt sind. Ich wollte gar nicht hierher kommen aus der Stadt, in der ich geboren war, von Leningrad, sondern von Helsinki aus, von einem neutralen Ort, aber es sollte nicht sein.
Der Wald war still. Es gab ein paar Trauernde, aber ansonsten war alles still. Mein Moslem-, Kommunisten-, Chinesen-Großvater war hier. Mein Großvater, der Linguist, der Gesundheits-Minister für Kasachstan, ein Mann, der sein ganzes Leben der Revolution gab, aber in Ungnade fiel und getötet wurde, in diesen ruhigen Wald geworfen, ohne Respekt und ohne Ritual.
Es war leicht, Schlüsse zu ziehen, alles zu verurteilen. Aber ich hatte genug über ihn gehört, um zu wissen, dass er niemals seine Überzeugung verraten hat, genau wie meine Großmutter es niemals tat.
Bevor sie starb, fragte ich meine Großmutter: „Du hast nie wieder geheiratet. Du bist jahrzehntelang so schön geblieben, nachdem mein Großvater starb. Warum?“
Sie lächelte ihr schlichtes Lächeln. „Dein Großvater, „sagte sie, „war ein sehr großer Mann. Es ist äußerst selten, einen Mann wie ihn zu treffen. Andere reichten ihm nicht einmal bis zur Schulter.“ Und sie meinte nicht die Größe meines Großvaters. 
Er war ein Kommunist, was für ihn einfach der Prozess bedeutete, eine viel bessere Welt aufzubauen als jene, die er aus seiner Kindheit kannte.
Im Wald setzte ich mich ins Gras. Es war kalt. Nach all den Kriegen, über die ich geschrieben habe, nach 145 Ländern, die ich besucht habe, den Dutzenden von Büchern, die ich geschrieben habe und den Filmen, die ich produziert habe, nach all diesem Kampf, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, mich an jemanden anzulehnen, nur für diesen Moment; ich wollte sprechen, gehalten werden, meine Geschichte erzählen, von Anfang bis Ende. Ich habe mir nie was aus Autobiographien gemacht, aber jetzt wollte ich verstanden werden. Aber am Ende kam ich allein, nur mit meiner Leica und einem dünnen Buch mit Gedichten von Antonio Guerrero Rodriguez, einer der fünf kubanischen Patrioten, die brutal in Miami eingesperrt wurden.
Meine ganze Familie mütterlicherseits war zerbrochen und zerstreut. Aber wir waren alle Kämpfer.
Wie mein Großvater und meine Großmutter musste ich weitermachen: ich musste kämpfen und für das streiten, woran ich glaube. Wie sie auch, weiss ich, wie kurz das Leben ist, wie wenig Zeit man hat, wie wertvoll es ist und wie mächtig der Feind ist.

***
Später fuhr ich mit der legendären Leningrader Metro mit all ihren Untergrundpalästen und den alten baufälligen Wagen aus der Sowjet-Ära.
Ich las weiter Antonio Guerrero Rodriguez, in der 2-sprachigen spanisch-russischen Ausgabe, die mir der Übersetzer meiner Bücher in Kiew geschenkt hatte.


El amor que expira no es amor
Die Liebe, die erlöscht ist keine Liebe
El verdadero amor pertenece
Die wahrhaftige Liebe überdauert
A todo el tiempo, a la tierra toda
Alle die Zeiten und auch die ganze Erde
Sin Temor enfrenta tempestades
Ohne Furcht widersteht sie Stürmen
Resiste hasta el filo de la muerte
Widersteht bis über den Tod hinaus
Y, como la natura, es eterno.
Und, wie die Natur, ist sie ewig.

In diesem erstaunlichen Gedicht, geschrieben in einem Gefängnis in Miami, meint Rodriguez, dass Liebe, die vergeht, keine wirkliche Liebe ist. Dass wahre Liebe selbst dem Tod widersteht und wie die Natur ewig ist.
Ich bemerkte, dass eine junge Dame über meine Schulter hinweg mitlas. Nach einer Weile fragte sie mich in gutem Spanisch: „Ist es wahr, was er sagt?“ - Auch auf Spanisch antwortete ich: „Ja, sie sind im Gefängnis, sie alle. Es ist furchtbar.“
Das ist es nicht, was ich meine“, sagte sie mit einer gewissen Dringlichkeit. „Ist es wahr, was er sagt? Dass Liebe ewig ist oder es ist keine Liebe?“
Ich war verblüfft, da dies nicht einmal in Buenos Aires passiert wäre. So ein Austausch konnte nur in Havana stattfinden – und hier. Dann wurde mir klar, dass dies schließlich meine Stadt war, die Stadt, in der Dichter von Millionen gelesen werden, und dass diese Stadt mich zum Schriftsteller gemacht hat. Ich schaute das Mädchen an, schaute ihr gerade in die Augen und erwiderte auf Russisch: „Meine Großeltern dachten so. Ich weiss nicht, ob es die Wahrheit ist, aber ich habe immer gelebt, als wäre es so.“
Das Mädchen nickte. Sie sagte nichts, aber als sie den Wagen an der nächsten Station verließ, schenkte sie mir das strahlendste Lächeln, das ich seit Jahren erhalten habe. Offenbar hatte die Stadt ihre eigene Art, mir Stärke zu verleihen. 
Draußen, am Ufer der Newa, lehnte ich kurz meine Stirn an die Granitmauer, die den Gehsteig von der großen Wasserstraße trennt. Der Stein war kalt, erfrischend.
Leningrad versuchte nicht, mich zu halten. Es war zu stolz, zu riesig. Aber ich fühlte, dass es mich umarmte, bevor es mich zurück in den Krieg schickte, in die Schlacht. Ich musste das Erbe jener weiterführen, die für das Überleben der Menschheit in den 40-er Jahren gekämpft hatten. Ich kannte alle die Plätze, die belagert wurden; ich kannte so viele Plätze auf dieser Erde, die schlimmer als irgendeine Hölle waren, die religiöse Theorien erdenken können. Ich kannte wirklich so viele von ihnen. Ich bin verpflichtet zu kämpfen und zu arbeiten, Tag und Nacht.
Wie Rodriguez und andere klar sahen, muss man kämpfen, wenn Männer, Frauen und Kinder gemetzelt werden, wenn ganze Nationen und Kulturen zerstört werden. Wenn Ungerechtigkeit Gerechtigkeit genannt wird und in ihrem Namen die Grausamkeit herrscht.
Mit den tiefen Wassern der Newa vor mir flüsterte ich, wie ich es als Kind machte, wenn ich zur Stadt sprach: „Jetzt werde ich gehen, aber ich werde zurückkommen. Bitte, warte auf mich.“
André Vltchek ist Romanschriftsteller, Filmemacher und untersuchender Journalist. Er hat über Kriege und Konflikte in Dutzenden von Ländern geschrieben. Sein Buch über den westlichen Imperialismus im Südpazifik 'Oceania' wurde bei Lulu verlegt. Sein provokatives Buch über Indonesien nach Suharto und das markt-fundamentalistische Modell heisst 'Indonesia – Der Archipel der Angst' erschien bei Pluto. Nachdem er viele Jahre in Lateinamerika und Ozeanien gelebt hat, wohnt und arbeitet Vltchek gegenwärtig in Ostafrika und Asien. Er kann auf seiner Webseite erreicht werden. Phänomenal, was dieser Mann alles gemacht hat.

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