Die Einsamkeit eines Internationalisten
Aus dem Englischen und Spanischen von Einar Schlereth
Aus dem Englischen und Spanischen von Einar Schlereth
„Niemand
ist vergessen und nichts ist vergessen.“ Dies ist in Gold in den
Granitstein graviert, direkt hinter der Statue des Mutterlandes (im
Russischen heisst es statt Vaterland eben Mutterland und nicht wie
bei Wikipedia 'Mutter Heimat'. D. Ü.), die ihre Arme in Kummer
ausbreitet. Der Piskariovskoye-Gedenkfriedhof liegt
in der Stadt St. Petersburg mit 186 Massengräbern und etwa einer
halben Million dort begrabenen Menschen, einschließlich des größten
Teils meiner Familie von der mütterlichen Seite.
Im 2.
Weltkrieg hat die Stadt Leningrad 900 Tage lang (zweieinhalb Jahre)
standgehalten und einer der furchtbarsten Belagerungen in moderner
Geschichte getrotzt
Sie
stoppte den Vormarsch der Nazi-Truppen, widerstand dauernden
Luftbombardements, bitterer Kälte, Hunger und dem Mangel an dem
Allernotwendigsten. Beinahe die Häfte der Bevölkerung verschwand –
von Bomben verbrannt, in Schützengräben erfroren und in ungeheizten
Wohnungen oder verhungert.
Die
kulturelle Hauptstadt Russlands gab ihr Äußerstes: sie erhob sich
trotzig und mutig und spielte eine bedeutende Rolle bei der Besiegung
des Nazismus und damit der Rettung der Welt.
Und
das, während der größte Teil des Westens entweder mit dem Nazismus
kollaborierte oder ihn zu „beschwichtigen“ versuchte.
Natürlich
hat die UdSSR im allgemeinen und Leningrad im besonderen nicht die
Welt gerettet, die der weißen Rasse gehört; sie retteten die Welt
der 'Nicht -Menschen' laut den deutschen Faschisten, der
auszulöschenden Wesen: Menschen des indischen Sub-Kontinents,
Afrikaner, Juden, Roma, Slawen, Araber und die meisten der Asiaten.
Und
durch die Zerschmetterung des Faschismus erhielt auch der
Kolonialismus einen entscheidenden Schlag (da Faschismus und
Kolonialismus aus demselben Stoff sind), was dutzenden Ländern in
Asien und Afrika ermöglichte, die Unabhängigkeit zu gewinnen und
die Freiheit. Zumindest für eine Zeit; zumindest, bis es den
westlichen Ländern gelang, sich neu zu formieren.
Dies
wurde natürlich in den europäischen und nordamerikanischen
Hauptstädten niemals verziehen. Die Sowjetunion und alle ihre Ideale
und Prinzipien mussten durch den Dreck gezogen und verteufelt werden.
Obwohl sie die Welt vor dem Nazismus rettete, wurde es üblich, sie
mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen, und viele
progressive westliche Intellektuellen übernahmen dieses verdrehte
und beleidigende Urteil.
Als
ich mich auf eine Bank nahe der Statue des Mutterlandes setzte, war
ich in Gesellschaft von Artem Kirpichenok, einem der führenden
russischen Historiker; ein Jude, der 15 Jahre lang in Israel lebte,
aber beschloss in seine Heimatstadt St. Petersburg zurückzukehren,
nachdem er desillusioniert wurde durch den Rassismus und die
institutionalisierte Diskriminierung der Minoritäten in dem
jüdischen Staat.
„Es
ist unglaublich, dass es der westlichen Propaganda gelang, die
meisten Menschen in der Welt glauben zu machen, dass der Nazismus und
der sowjetische Kommunismus vergleichbar sind“, sagte ich. „Selbst
einige progressive Intellektuelle sprechen beide 'ismen' in einem
Atemzug aus.“
„Nazi-Deutschland,
genau wie England, die USA und Frankreich basierte auf der
rassistischen und kolonialistischen Denkweise, den weithin
akzeptierten Prinzipien in der westlichen Bourgeoisie in den 30-er
Jahren“, äußerte Artem Kirpichenok. „Hitler baute sein Imperium
in Osteuropa nach dem britischen kolonialen Muster in Indien. Die
Nazi-Rassen-Theorien unterschieden sich nicht allzusehr von dem
Rassismus in dem Süden der USA oder von den Rassentheorien der
französischen, belgischen, britischen oder holländischen Imperien,
die in den Kolonien errichtet wurden. Der Kollaps des Dritten Reiches
hat all diesen Idealen des Kolonialismus und Rassismus einen harten
Schlag versetzt. Und der Sowjetunion konnte man hauptsächlich „die
Schuld“ an diesem Kollaps geben. Die ideologische Basis der
europäischen Dominanz über Asien, Afrika und Lateinamerika war
beschädigt worden.“
Das
konnte natürlich nie verziehen werden.
***
Während
der Belagerung hob meine Großmutter in den Vorstädten der Stadt
Schützengräben aus. Sie kämpfte gegen die Deutschen und wurde für
ihren Mut mehrere Male ausgezeichnet. Ich habe keine Idee, wie sie es
anstellte, wie sie es schaffte, zu kämpfen und zu überleben – sie
war so liebevoll, zerbrechlich und sehr scheu. Viele Jahre nach dem
Krieg, Jahre nach meiner Geburt, wenn sie mir Gedichte und Märchen
vorlas, fand ich es schwierig, mir vorzustellen, dass sie eine
Kalashnikov in der Hand hielt, Handgranaten oder selbst nur eine
Schaufel. Aber das tat sie; sie kämpfte und sie war bereit zu
sterben für das, was sie damals für eine epische Schlacht für das
Überleben der Menschheit hielt. Und sie war sehr nahe dran, bei
mehreren Malen zu sterben.
Sie
war eine christlich-orthodoxe Dame, aber auch eine überzeugte
Befürworterin des Kommunismus, eine seltene Kombination. Sie
heiratete meinen Großvater, ein brillanter Moslem aus der
chinesischen Minorität in Kasachstan, namens Husain Ischakov, ein
Linguist und ein Gesundheitskommissar und später für die
Nahrungsmittelversorgung (im Grunde ein Minister-Posten in der alten
Zeit) zuständig.
Was
folgte, war ein Abschnitt, der direkt aus der westlichen Propaganda
hätte geholt sein können. Mein Großvater fiel bei Stalin in
Ungnade, wurde verhaftet und erschossen. 1937 (die früheste
Erinnerung, die meine Mutter aus ihrer „Kindheit“ hatte) beugte
sich dieser große und elegante Mann über die Wiege, nahm meine
Mutter in seine Arme und drückte sie an seine Brust, bevor er von
den staatlichen Agenten weggeführt wurde, in die Vergessenheit und
die Ewigkeit. Er weinte, als er in ihr Gesicht schaute; er wusste
genau, was ihm bevorstand. Er kam niemals wieder.
Meine
Großmutter kämpfte. Sie wurde dekoriert. Aber nichtsdestoweniger
wurde sie, als der Krieg vorbei war, verhaftet und ins Gefängnis
geworfen, weil sie „einen Staatsfeind geheiratet hatte“. Sie
verbrachte Jahre im Gefängnis, während meine Mutter, praktisch ein
Waisenkind, die Hölle durchmachte. Als meine Großmutter entlassen
wurde, sagte sie zu meiner Muter: „Es war so furchtbar, dass ich
dachte: noch zwei Wochen und ich hänge mich dort auf.“ Aber sie
betrog niemals meinen Großvater: sie hätte nur unterschreiben
brauchen, dass sie „bedauerte“, ihn geheiratet zu haben. Das tat
sie nicht. Offensichtlich war ihr ihre Treue zu ihm wichtiger als ihr
Leben.
Sie
verließ das Gefängnis, immer noch eine orthodoxe Christin und immer
noch Kommunistin!
Der
Name meines Großvaters wurde schließlich „rehabilitiert“; er
wurde postum wieder zu einem „Helden“ gemacht. Über ihn wurden
Bücher geschrieben und meiner Mutter wurde erlaubt, Architektur zu
studieren.
***
Was
meiner Familie passierte, war natürlich brutal und furchtbar. Und zu
behaupten, dass die UdSSR eine Art Paradies auf Erden war, würde
verrückt sein.
Aber
wir sprechen über die 30-er und 40-er Jahre. Und in dem Zusammenhang
war die UdSSR definitiv humaner als das westliche Europa und die USA.
Das zu bestreiten, hieße, die elementarsten Statistiker zu leugnen.
„Lass
uns vergleichen“, wurde mir mehrfach von dem größten
südostasiatischen Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer gesagt, der
ungezählte Male für den Nobelpreis nominiert wurde, aber ihn nie
bekam, weil er, anders als Solschenizyn, im falschen, pro-westlichen
KZ eingesperrt war. „Lass uns daran denken, dass alles in einem
historischen Kontext passiert.“
Der
westlichen Propaganda gelang es, einige ungeheuer effektive Lügen,
Halbwahrheiten und direkte Erfindungen in Gang zu setzen, die weder
geprüft noch diskutiert werden konnten (nicht, dass die meisten
Leute es überhaupt versuchten): die Zahl der Opfer in den Gulags
wurden übertrieben und die Zahlen der politischen Insassen und der
gewöhnlichen Verbrecher wurden regelmäßig in einen Topf geworfen
(in der Stalin-Ära mussten alle Verurteilten arbeiten in einer Art
Arbeitslager mit furchtbaren Bedingungen, da das Land noch arm war.
Viele Gefangene kamen nie wieder.)
Manche
Mitglieder der sowjetischen und militärischen Elite (einschließlich
mein Großvater) wurden erschossen. Aber geschah das wegen
„Stalinistischem Terror“? Viele Analytiker (russische,
chinesische u. a.) behaupten jetzt, dass der Nazi-Spionage-Apparat
die sowjetische Spionage stark unterwandert hatte. Deutschland wollte
die talentiertesten, loyalsten und tolerantesten Sowjet-Führer und
Generale los werden. Sie identifizierten sie und begannen dann die
schädlichsten, aber erfundenen Informationen über ihre
Abtrünnigkeit zu verbreiten. Mein Großvater z. B. wurde unter der
Anklage, „für Japan zu spionieren“ erschossen, eine lächerliche,
aber irgendwie „logische“ Anklage, da er Linguist war und mehrere
asiatische Sprachen sprach.
Darüberhinaus
hatten Stalin und seine Umgebung genug, worüber sie „paranoid“
werden konnten: die Feindschaft des Westens gegenüber dem jungen
kommunistischen Staat war offensichtlich. Die UdSSR wurde von den
USA, England angegriffen und von brutalen tschechischen Legionen und
anderen Invasionsmächten verwüstet.
***
Jeder
mit einer Spur von Objektivität müsste zugeben (wenn er oder sie
nicht das grundlegende Prinzip des Humanismus leugnet, das besagt,
dass alle Menschen gleich sind, egal welcher Rasse und/oder
Nationalität), dass die kommunistische Sowjetunion viel weniger
Verbrechen als die westlichen Länder unter dem Banner
„konstitutioneller Demokratien“ oder „Viel-Parteien-Demokratien“
begangen hat.
Während
die Sowjets damit beschäftigt waren Dutzende Millionen aus der Armut
zu reißen (und wir sprechen z. B. über die Moslems im Nahen Osten,
die Gebiete, wo der Lebensstandard am Ende dem des europäischen
Teils Russland entsprach, aber auch von den zahllosen Minoritäten,
die im riesigen Russland lebten), in einem Gebiet etwa von der Größe
Kongos, wo die Belgier es fertig brachten, 10 Millionen Menschen zu
töten, die Hände abzuhacken und Frauen und Kinder lebendig in ihren
Hütten zu verbrennen.
Die
Deutschen begingen einen monströsen Genozid (oder nennt es
Holocaust) an den Hereros in Namibia, aus keinem anderen offenbaren
Grund, als dass sie ihnen nicht passten. Die ersten
Konzentrationslager auf Erden wurden vom britischen Imperium in
Afrika gebaut; und der französische koloniale Ansturm in
Südostasien, in West- und Nordafrika und sonstwo ist gut
dokumentiert. Die Holländer plünderten, vergewaltigten, töteten
und bereicherten sich in dem großen Archipelago, der jetzt
Indonesien genannt wird.
Die
Genozide, Massenmorde und der Terror, die vom Westen in der übrigen
Welt verübt wurden sind zahllos, aber natürlich wenig berichtet, da
„Auslandshilfe“ für Erziehung und Medien es fertigbrachte,
Kollaborateure in der armen Welt zu trainieren und zu disziplinieren,
um sicherzustellen, dass die Wahrheit über die Vergangenheit im
allgemeinen unter den Tisch fällt.
Selbst
das Ende des 2. Weltkrieges brachte kein Ende der bestialischen
Behandlung der „Eingeborenen“ durch die europäischen und
nordamerikanischen Kolonialisten. Man sollte sich erinnern an die
Behandlung der Menschen im Nahen Osten durch Winston Churchill und
andere verherrlichte britische Führer. All dies ist natürlich gut
dokumentiert, selbst in den Büchern von Winston Churchill, aber wird
selten erwähnt von den disziplinierten und verlässlichen
Mainstream-Medien und der Akademikerwelt, sowohl in den
kolonisierenden als auch den kolonisierten Ländern.
Es
gibt ungezählte Statuen von Winston Churchill oder dem belgischen
König Leopold II in allen Hauptstädten Europas.
In
der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts, während des sogenannten
„Kalten Krieges“, stand die Sowjetunion fest an der Seite der
Unterdrückten, auf der Seite der Befreiungskämpfe für Freiheit in
Afrika, Asien und Lateinamerika. Man fragt sich, wie mächtig die
Propaganda gewesen sein muss, die all dieses in Vergessenheit fallen
ließ?
Während
Europa und die Vereinigten Staaten (und ihre konstitutionellen
Monarchien und Viel-Parteien -“Demokratien“) Despoten im Iran,
Ägypten, dem Golf, dem Nahen Osten, Südvietnam, Kambodscha,
Südkorea, Chile, Argentinien, Guatemala, Nicaragua, Uruguay, der
Dominikanischen Republik, Haiti, Brasilien, Kenya, Südafrika,
Indonesien und vielen anderen unglücklichen Plätzen kultivierten,
stand die Sowjetunion an der Seite der kubanischen, nicaraguanischen,
tansanischen und nordvietnamesischen Revolutionen, unterstützte
deren Führer, wahre Helden und Befreier wie Patrice Lumumba und
Präsident Salvador Allende.
Und
wir beide – Noam Chomsky und ich – kamen zu dem Schluss bei
unserer jüngsten Diskussion am MIT, dass der Lebensstandard in Riga,
Prag oder Ostberlin höher als in Moskau sein durfte, während der in
Taschkent oder Samarkand nur geringfügig niedriger war. Der
Lebensstandard in den Kolonien und den Klienten-Staaten des Westens
war zehnmal, zwanzigmal, selbst hundertmal niedriger als der in
Washington, Paris oder London, was oft zum Verlust von Millionen
Menschenleben führte.
Ich
schätzte, dass etwa 55 Millionen Menschenleben seit dem 2. Weltkrieg
als Ergebnis des westlichen Kolonialismus, Neo-Kolonialismus,
direkten Invasionen, gesponserten Staatscoups und anderen Akten
internationalen Terrors verloren gingen. Ich unterschätze
wahrscheinlich sehr stark die Zahl, da es ja auch verlorene
Menschenleben durch Hungersnöte, furchtbares Mismanagement und das
direkte vom westlichen Imperialismus verursachte Elend gibt.
Dutzende
Millionen Menschenleben gingen ferner verloren als Ergebnis der
furchtbaren Saat, die vom Imperialismus und dem Kolonialismus gesät
wurde, wovon das sichtbarste Beispiel die Teilung des indischen
Subkontinents ist.
Ich
würde vorschlagen, dass, statt Faschismus mit dem sowjetischen
Kommunismus zu vergleichen, die Linke und die ganze denkende Welt
anfangen solltre, das zu vergleichen, was wirklich
vergleichbar ist: der Faschismus, der westliche Kolonialismus und der
Markt-Fundamentalismus (der gewalttätigste und fundamentalistischste
Glaube heute auf Erden), der von westlichen Multi-Parteien-Systemen
und „konstitutionellen Monarchien“ bedient und repräsentiert
wird.
***
Wenn
ich eine neue Person treffe, was sehr häufig vorkommt, dann ist für
mich die gefürchtetste Frage die einfachste und natürlichste Frage:
„Wo kommst du her?“
Ich
weiss nicht, was ich sagen soll, ich kann nicht antworten und selbst
wenn ich könnte, würde die Antwort zu unscharf, zu komplex und zu
philosophisch sein. Und obendrein, falls ich mich entscheiden würde
für eine lange und detaillierte Antwort, würde die Information, die
ich gäbe, nicht sehr genau sein.
Ich
bin ein geschworener Internationalist, aber das wird von der Mehrzahl
der Leute, die ich treffe, nicht als eine Identität angesehen.
Meine
Interviewer und Rezensenten wählen häufig Prag, die ehemalige
Tschechoslowakei oder das heutige Tschechien als meine Identität,
aber das ist gründlich falsch. Prag war niemals meine Heimat. Die
Tschecholowakei war das, wo ich eine höllische Kindheit verbrachte,
wo im Winter mir meine Schuhe mit Urin gefüllt wurden und
sie die Kerle vor der Schule oder dem Gymnastiksaal
gefrieren ließen, eine der zahllosen Strafen dafür, dass ich eine
„asiatische Mutter“ hatte. Das ist der Ort, wo ich nach jeder
Klasse um mein Leben kämpfen musste, ab dem Alter von sechs Jahren,
weil meine Mutter nicht nur halb asiatisch war, sondern auch noch
halb russisch.
Meine
wahre Identität ist überall verstreut: sie liegt tief und hoch in
den Anden von Peru und Bolivien, wo ich mehrmals dem Tod ins Auge
schaute, als ich über den „schmutzigen Krieg“ Perus schrieb. Sie
liegt in Chile, wird reflektiert von den engen, sich windenden und
oft heimgesuchten Gassen der Hafenstadt Valparaiso, sie liegt bei den
chilenischen Dichtern und den Liedern der Fischer an der Küste. Mein
Identität ist zerstreut in den gewaltigen Gewässern des
Süd-Pazifik, der übersät ist mit winzigen Landflecken – jetzt
Insel-Länder – die von den traditionellen Kolonialmächten
kolonisiert und gründlich zerstört wurden.
Meine
Identität reicht von der Swahili-Küste Afrikas bis rund um die
großen Seen des Kontinents, zu all den Plätzen, die den
schlimmsten Genozid der modernen Geschichte durchmachten, ein
Genozid, der von den europäischen und nordamerikanischen politischen
und ökonomischen Interessen entfacht wurde. Meine Identität liegt
auch in den Wüsten des Nahen Ostens, und wenn ich nur den
Sub-Kontinent etwas besser kennte, würde sie auch dort liegen. In
bin zuhause in Havana, Caracas, Buenos Aires, Onomichi, Beijing,
Kapstadt und Kuala Lumpur. Und ich lebe auch in Japan, Indonesien und
Kenya.
Es
ist ein totales Durcheinander, ich weiss, es ist sehr verwirrend und
ich kann es nicht erklären, aber es ist so.
Jahrelang,
selbst Jahrzehnte lang, war meine Heimat dort, wo der Kampf für
Gerechtigkeit und Unabhängigkeit tobte; ich habe Bücher und Artikel
geschrieben, Filme gemacht oder wurde direkt in den Kampf verwickelt.
Ich kann kaum meine Rasse, Kultur oder nationale Identität
ausmachen, und ich versuche es auch gar nicht erst. Ich gehe hin, wo
ich gebraucht werde. Und am Ende auch, wie Garcia Marquez schrieb:
mein Heim ist, wo man meine Bücher liest.
***
Geboren
wurde ich in Russland, in Leningrad (tut mir leid, aber ich kann es
einfach nicht St. Petersburg nennen, wie es jetzt genannt wird, es
wird für mich immer Leningrad bleiben). Ich habe niemals dort
gelebt, weil meine Eltern mich mit in die Tschechoslowakei nahmen,
als ich erst wenige Monate alt war. Aber jedes Jahr setzte mich meine
Mutter in ein Flugzeug, eine jener alten sowjetischen
Tupolew-Maschinen mit Mahagoni-Tischen, Lampenschirmen und schwarzem
Kaviar, der auf allen internationalen Flügen serviert wurde, mit nur
einer einzien Klasse, um mich nach Leningrad zu schicken, wo meine
Großmutter auf mich warten würde, mit einem Schlüsselbund für ein
einfaches gemietetes Zimmer an der Finlandbucht, ein Zimmer, das für
mich wie ein Paradies war. Meine Großmutter hatte immer einen Packen
mit Eintrittskarten und Pässen für die Oper, das Ballet und
Kunstausstellungen. In den kommunistischen Zeiten kosteten sie
nichts, waren aber schwer zu bekommen.
Und
sie hatte Berge von Büchern, die auf mich warteten. Sie musste sie
mir vorlesen, obwohl ich selbst lesen konnte. Sie las bis spät in
die Nacht und wenn es draußen regnete, waren das besonders magische
Augenblicke.
Vom
Moment an, wo ich Leningrad verließ, begann ich die Tage zu zählen,
die bis zu meiner Rückkehr vergingen. Ich hatte mein besonderes
geheimes Buch, in dem ich jeden Tag, der ging, verzeichnete. Das
kalte tiefe Wasser der Newa, ihre Brücken, die offenen Plätze, die
Schönheit dieser ehemaligen russischen Hauptstadt, die so oft in
Nebel gehüllt war, das Pathos der russischen und damals sowjetischen
Geschichte, das Pathos der Geschichte meiner eigenen Familie – all
das fesselte meine Sinne, ließ mich träumen, machte mich frühzeitig
erwachsen.
In
der Tschecholowakei vermisste meine Mutter Russland furchtbar. Sie
weinte fast jede Nacht. Auch sie las mir Bücher vor und eine Menge
Gedichte.
So
hatte ich keine eigentliche Kindheit, aber beide Frauen schafften es,
aus mir einen Schriftsteller zu machen und in einem sehr frühen
Alter. Ich erbte ihren Kampf, ihre 900-tägige Belagerung, ihren
Krieg, ihr Russland.
Beide
Frauen reichten alles an mich weiter, aber nicht einfach nur das
Leiden, die Gefängnisse und die Kriege sondern auch große
Hoffnung, die Fähigkeit zu träumen, Enthusiasmus, Optimismus und
eine große Solidarität. Sie lehrten mich, dass man immer aus dem
Nichts aufbauen konnte oder aus der Asche neu bauen konnte. Und diese
Liebe, wenn sie wahre Liebe ist, ist nicht etwas, was verschwindet,
es verflüchtigt sich nicht in einem Monat und nicht in vielen
Jahren.
Sie
reichten mir auch ihre Liebe für ihre Stadt weiter; ihre verlorene
aber niemals vergessene Liebe.
***
Jetzt,
nach all diesen Jahren, kam ich zurück nach Leningrad. Mittlerweile
war ich mehr Lateinamerikaner oder Asiate als Russe. Meine
Muttersprache fühlte sich plötzlich so schwer und rostig an: meine
Aussprache war zwar immer noch perfekt, aber die Sprache war
archaisch und über-höflich.
Ich
kam erschöpft zurück, nachdem ich mein großes Buch in London
vorgestellt hatte – das Buch über Indonesien und wie der Westen
das Land nach dem US-gesponserten Coup von 1965 ruiniert hat. Ich
kehrte zurück, nachdem ich gerade meinen 160 Minuten Dokumentarfilm
über den Genozid in der Demokratischen Republik Kongo beendet hatte
und nachdem ich in Uganda und dann an der türkisch-syrischen Grenze
gearbeitet hatte.
Ich
fühlte mich einsam und sehnte mich verzweifelt nach jemandem, den
ich mochte, um meine Geschichte zu erzählen. Aber es ergab sich,
dass niemand in Leningrad zu mir stieß.
Ich
wanderte durch die Straßen, so vertraut und so fremd.
Ich
lief zur alten Bucht in Zelenogorsk, aber sie hatte sich verändert;
die Marina war voller Privatboote und Yachten, statt meinen alten
Schleppern und Patrouillen-Booten.
Ich
ging den Wald besuchen, wo der tote Körper meines Großvaters aus
dem Zug geworfen worden war. Jetzt ist es der Gedenkfriedhof,
tatsächlich ein Gespenster-Wald, in dem Namen und Fotos an Bäume
genagelt sind. Ich wollte gar nicht hierher kommen aus der Stadt, in
der ich geboren war, von Leningrad, sondern von Helsinki aus, von
einem neutralen Ort, aber es sollte nicht sein.
Der
Wald war still. Es gab ein paar Trauernde, aber ansonsten war alles
still. Mein Moslem-, Kommunisten-, Chinesen-Großvater war hier. Mein
Großvater, der Linguist, der Gesundheits-Minister für Kasachstan,
ein Mann, der sein ganzes Leben der Revolution gab, aber in Ungnade
fiel und getötet wurde, in diesen ruhigen Wald geworfen, ohne
Respekt und ohne Ritual.
Es
war leicht, Schlüsse zu ziehen, alles zu verurteilen. Aber ich hatte
genug über ihn gehört, um zu wissen, dass er niemals seine
Überzeugung verraten hat, genau wie meine Großmutter es niemals
tat.
Bevor
sie starb, fragte ich meine Großmutter: „Du hast nie wieder
geheiratet. Du bist jahrzehntelang so schön geblieben, nachdem mein
Großvater starb. Warum?“
Sie
lächelte ihr schlichtes Lächeln. „Dein Großvater, „sagte sie,
„war ein sehr großer Mann. Es ist äußerst selten, einen Mann wie
ihn zu treffen. Andere reichten ihm nicht einmal bis zur Schulter.“
Und sie meinte nicht die Größe meines Großvaters.
Er
war ein Kommunist, was für ihn einfach der Prozess bedeutete, eine
viel bessere Welt aufzubauen als jene, die er aus seiner Kindheit
kannte.
Im
Wald setzte ich mich ins Gras. Es war kalt. Nach all den Kriegen,
über die ich geschrieben habe, nach 145 Ländern, die ich besucht
habe, den Dutzenden von Büchern, die ich geschrieben habe und den
Filmen, die ich produziert habe, nach all diesem Kampf, hatte ich
plötzlich das Bedürfnis, mich an jemanden anzulehnen, nur für
diesen Moment; ich wollte sprechen, gehalten werden, meine Geschichte
erzählen, von Anfang bis Ende. Ich habe mir nie was aus
Autobiographien gemacht, aber jetzt wollte ich verstanden werden.
Aber am Ende kam ich allein, nur mit meiner Leica und einem dünnen
Buch mit Gedichten von Antonio Guerrero Rodriguez, einer der fünf
kubanischen Patrioten, die brutal in Miami eingesperrt wurden.
Meine
ganze Familie mütterlicherseits war zerbrochen und zerstreut. Aber
wir waren alle Kämpfer.
Wie
mein Großvater und meine Großmutter musste ich weitermachen: ich
musste kämpfen und für das streiten, woran ich glaube. Wie sie
auch, weiss ich, wie kurz das Leben ist, wie wenig Zeit man hat, wie
wertvoll es ist und wie mächtig der Feind ist.
***
Später
fuhr ich mit der legendären Leningrader Metro mit all ihren
Untergrundpalästen und den alten baufälligen Wagen aus der
Sowjet-Ära.
Ich
las weiter Antonio Guerrero Rodriguez, in der 2-sprachigen
spanisch-russischen Ausgabe, die mir der Übersetzer meiner Bücher
in Kiew geschenkt hatte.
El
amor que expira no es amor
Die
Liebe, die erlöscht ist keine Liebe
El
verdadero amor pertenece
Die
wahrhaftige Liebe überdauert
A
todo el tiempo, a la tierra toda
Alle
die Zeiten und auch die ganze Erde
Sin
Temor enfrenta tempestades
Ohne
Furcht widersteht sie Stürmen
Resiste
hasta el filo de la muerte
Widersteht
bis über den Tod hinaus
Y,
como la natura, es eterno.
Und,
wie die Natur, ist sie ewig.
In
diesem erstaunlichen Gedicht, geschrieben in einem Gefängnis in
Miami, meint Rodriguez, dass Liebe, die vergeht, keine wirkliche
Liebe ist. Dass wahre Liebe selbst dem Tod widersteht und wie die
Natur ewig ist.
Ich
bemerkte, dass eine junge Dame über meine Schulter hinweg mitlas.
Nach einer Weile fragte sie mich in gutem Spanisch: „Ist es wahr,
was er sagt?“ - Auch auf Spanisch antwortete ich: „Ja, sie sind
im Gefängnis, sie alle. Es ist furchtbar.“
„Das
ist es nicht, was ich meine“, sagte sie mit einer gewissen
Dringlichkeit. „Ist es wahr, was er sagt? Dass Liebe ewig ist oder
es ist keine Liebe?“
Ich
war verblüfft, da dies nicht einmal in Buenos Aires passiert wäre.
So ein Austausch konnte nur in Havana stattfinden – und hier. Dann
wurde mir klar, dass dies schließlich meine Stadt war, die Stadt, in
der Dichter von Millionen gelesen werden, und dass diese Stadt mich
zum Schriftsteller gemacht hat. Ich schaute das Mädchen an, schaute
ihr gerade in die Augen und erwiderte auf Russisch: „Meine
Großeltern dachten so. Ich weiss nicht, ob es die Wahrheit ist, aber
ich habe immer gelebt, als wäre es so.“
Das
Mädchen nickte. Sie sagte nichts, aber als sie den Wagen an der
nächsten Station verließ, schenkte sie mir das strahlendste
Lächeln, das ich seit Jahren erhalten habe. Offenbar hatte die Stadt
ihre eigene Art, mir Stärke zu verleihen.
Draußen,
am Ufer der Newa, lehnte ich kurz meine Stirn an die Granitmauer, die
den Gehsteig von der großen Wasserstraße trennt. Der Stein war
kalt, erfrischend.
Leningrad
versuchte nicht, mich zu halten. Es war zu stolz, zu riesig. Aber ich
fühlte, dass es mich umarmte, bevor es mich zurück in den Krieg
schickte, in die Schlacht. Ich musste das Erbe jener weiterführen,
die für das Überleben der Menschheit in den 40-er Jahren gekämpft
hatten. Ich kannte alle die Plätze, die belagert wurden; ich kannte
so viele Plätze auf dieser Erde, die schlimmer als irgendeine Hölle
waren, die religiöse Theorien erdenken können. Ich kannte wirklich
so viele von ihnen. Ich bin verpflichtet zu kämpfen und zu arbeiten,
Tag und Nacht.
Wie
Rodriguez und andere klar sahen, muss man kämpfen, wenn Männer,
Frauen und Kinder gemetzelt werden, wenn ganze Nationen und Kulturen
zerstört werden. Wenn Ungerechtigkeit Gerechtigkeit genannt wird und
in ihrem Namen die Grausamkeit herrscht.
Mit
den tiefen Wassern der Newa vor mir flüsterte ich, wie ich es als
Kind machte, wenn ich zur Stadt sprach: „Jetzt werde ich gehen,
aber ich werde zurückkommen. Bitte, warte auf mich.“
André
Vltchek ist Romanschriftsteller, Filmemacher und untersuchender
Journalist. Er hat über Kriege und Konflikte in Dutzenden von
Ländern geschrieben. Sein Buch über den westlichen Imperialismus im
Südpazifik 'Oceania' wurde bei Lulu verlegt. Sein provokatives Buch
über Indonesien nach Suharto und das markt-fundamentalistische
Modell heisst 'Indonesia – Der Archipel der Angst' erschien bei
Pluto. Nachdem er viele Jahre in Lateinamerika und Ozeanien gelebt
hat, wohnt und arbeitet Vltchek gegenwärtig in Ostafrika und Asien.
Er kann auf seiner
Webseite erreicht
werden. Phänomenal, was dieser Mann alles gemacht hat.
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