In dem Maße, wie wir die Opfer in Paris beklagen, dürfen wir nicht verkennen, in welch erschreckendem Umfang wir zu Massenmorden rund um den Globus beitragen
Von Willy Wimmer
Terroralarm in Paris: Französische Soldaten patrouillierten am Donnerstag vor dem Eifelturm und anderen symbolträchtigen Orten der Hauptstadt
Foto: Gonzalo Fuentes / Reuters
|
Die Französische Republik muss um ihrer selbst willen das fürchterliche Kapitalverbrechen in Paris so schnell es geht aufklären und ahnden. Es muss für alle Nachbarn und jeden Partner der Französischen Republik klar sein, Paris dabei jede Hilfe zuteil werden zu lassen, die diesen Zielen dient. Dabei sollte jeder Versuch unternommen werden, die gegenwärtige Spaltung Europas nicht auf dem Rücken der Opfer von Paris auszutragen und die notwendige Zusammenarbeit sowohl mit der Russischen Föderation als auch der Ukraine zu suchen und sie in die internationale Kooperation gleichberechtigt einzubinden.
Die engsten Partner der Französischen Republik sind die Staaten der Europäischen Union. Neben Paris wird es von ihnen abhängen, wie eine öffentliche Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse erfolgen kann, die verantwortlich zu nennen ist. Solange die Täter und ihre Hintermänner nicht dingfest gemacht worden sind, sollten keine sachfremden Überlegungen, die eigensüchtigen Zielen dienen, angestellt werden. Zu leicht würde damit die Gefahr einhergehen, Teile unserer Bevölkerung gegeneinander auszuspielen.
Wie wir aus leidvoller Erfahrung wissen, werden Massaker dieser Art umgehend benutzt, um weitere Kontrollmechanismen einzuführen, die vor allem die rechtschaffenen und gesetzestreuen Bürgerinnen und Bürger zum Ziel haben. Seit den Terroranschlägen von New York wissen wir, in welchem Maße die bürgerlichen Freiheiten Opfer dieser Anschläge geworden sind, weil die Überwachungseinrichtungen unserer Staaten sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten. Das ging und geht soweit, dass weitere Bestandteile dessen, was uns von staatlicher Souveränität noch übriggeblieben war, zu Hoheitsaufgaben fremder Staaten auf unserem eigenen Territorium verkommen sind. Wenn unsere Regierungen den seit Jahrzehnten eingeschlagenen Weg der Bekriegung weiter Teile des Globus fortsetzen, wird die von unseren Staaten losgetretene Verelendung anderer Staaten und der dort lebenden Menschen vor unseren Städten und Dörfern nicht haltmachen. In dem Maße, wie wir die Opfer in Paris beklagen und die Täter vor Gericht sehen wollen, dürfen wir nicht verkennen, in welchem erschreckenden Umfang wir zu Massenmorden rund um den Globus beitragen. Wir gehen mühelos über die Opfer afghanischer Hochzeitsgesellschaften hinweg, die Ziel unserer Raketen geworden sind.
Warum haben wir zugelassen, der NATO eine Entwicklung zu erlauben, die keinesfalls und in keinem einzelnen Punkt mit dem NATO-Vertrag übereinstimmt, dem ein Deutscher Bundestag einmal zugestimmt hat? Warum haben wir es zugelassen, unsere eigenen Interessen an einem gedeihlichen Zusammenleben in Europa hintanzustellen und statt dessen vom Raketenschirm bis zum Ukraine-Putsch das Tischtuch zur Russischen Föderation zu zerschneiden? Warum verfolgen wir gegenüber anderen Staaten eine Sanktionspolitik, von der wir wissen, dass sie Kriege vorbereiten und mit einem Legitimationsrahmen versehen soll? Warum lassen wir es zu, Menschenrechte zu militarisieren, um politische und vor allem ökonomische Interessen auf dem Rücken derjenigen durchzusetzen, für deren Belange wir angeblich streiten? Warum haben wir es zugelassen, eine verbesserungsfähige Gesellschaft der »sozialen Marktwirtschaft« auf dem Altar von »Shareholder Value« zu opfern und weiten Teilen unserer eigenen Bevölkerung die Perspektivlosigkeit zu offerieren?
Sieht man deshalb schwarz, weil absehbar ist, wohin dieser Weg führt? Sollen wir zusehen, wie unsere Erfahrungen von Krieg und Wahnsinn beiseite gefegt werden, um in das nächste Elend gestürzt zu werden? Die Menschen suchen Halt und finden ihn nicht mehr. So interessant es ist, die Beleuchtung von Domen abzuschalten, wenn es opportun erscheint, so wichtig wäre es, gegen die Hybris der Mächtigen auf dem Weg in den globalen Krieg die Glocken läuten zu lassen. Warum ist es nicht möglich, durch normales geschäftliches Vorgehen an die Rohstoffe für unsere Wirtschaft zu gelangen, statt alles mit der allein entscheidenden Machtfrage zu verbinden? Und unsere Soldatinnen und Soldaten? Über wohlfeile Mehrheiten in unseren Parlamenten werden sie nie und nimmer die für ihren Dienst notwendige Gewissheit erhalten, die zwingend daran gebunden ist, dass unser Land in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz dem Frieden in der Welt dienen muss und jede Teilnahme an einem Angriffskrieg sich deshalb a priori verbietet. Fallen wir hinter »Nürnberg« deshalb zurück, weil die mit uns verbündeten Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg wieder zum Normalfall machen werden, wie es bis zum Ersten Weltkrieg gang und gäbe gewesen ist? Verweigern wir uns in Zukunft dem, was in der Charta der Vereinten Nationen postuliert worden ist, weil unser »Lager« den Durchmarsch will und sich die globalen Strukturen schon dafür zurechtgelegt hat? Soll das Beispiel der Vereinigten Staaten mit einem überdimensionierten Militärapparat zu Lasten der Gesellschaft auf uns übertragen werden, um eine Neuauflage des Militarismus und der damit verbundenen gesellschaftlichen Verwerfungen erleben zu müssen?
»Frieden statt NATO«, dieses Thema der Rosa-Luxemburg-Konferenz am Samstag im Berliner Urania-Haus, zielt auf das Herz und den Verstand der Bevölkerung. Der Januar dieses neuen Jahres soll und muss in diesen Fragen verantwortlich beginnen und den notwendigen Kontrapunkt zu jenem Treffen in München setzen, bei dem mit der angeblichen Sicherheitskonferenz nur die Politik der schiefen Ebene fortgesetzt werden soll.
Willy Wimmer war 33 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages. Zwischen 1985 und 1992 war der CDU-Politiker erst verteidigungspolitischer Sprecher der Union und dann Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Von 1994 bis 2000 war er Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Auf der von junge Welt veranstalteten XX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz diskutiert er mit dem Linke-Politiker Oskar Lafontaine und dem Schauspieler Rolf Becker über den »Abschied der Linken vom Antimilitarismus«.
Junge Welt 09.01.2015 / Schwerpunkt / Seite 3Inhalt
Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/01-09/008.php
Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/01-09/008.php
No comments:
Post a Comment