Ein interessanter Artikel aus der App der Süddeutschen Zeitung:
Meinung, 08.11.2014
Gastkommentar
Deutschlands Verantwortung
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Von Daniel Barenboim
Die Welt erscheint uns dieser Tage unsicherer denn je. Konfliktherde im Nahen Osten, in Afrika und in Osteuropa, Hungersnöte und Krisen wie die Ebola-Epidemie dominieren unser kollektives Bewusstsein. Und unsere Regierungen sind gespalten darüber, welche Antworten die richtigen sind. Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Unterdrückung und Armut. Europa erscheint diesen Menschen als letzter, sicherer Zufluchtsort. Die reichen Nationen des Westens sind sozial und moralisch gefordert. Der 25. Jahrestag des Mauerfalls bietet einen guten Anlass, über den Zustand der Welt und über die besondere Verantwortung des geeinten Deutschlands und ganz Europas in diesen schwierigen Zeiten nachzudenken.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus resultierenden Aussicht auf eine neuen Weltordnung, kippte das prekäre Gleichgewicht der Großmächte. Es hätte eine unangefochtene, eindeutige Hegemonie der USA und Europas entstehen können, da sich ja die westlichen Systeme der Demokratie und des Kapitalismus durchgesetzt hatten. Der Westen, mit den USA an der Spitze, hätte die internationale Politik dieser neuen Zeit maßgeblich prägen können.
Stattdessen verspielte er seinen globalen Führungsanspruch. Durch ungesunden ideologischen Triumphalismus, durch Uneinigkeit und letztlich durch das moralische Versagen in internationalen Krisen wie dem Genozid in Ruanda, dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak mitsamt den skandalösen Foltergefängnissen in Abu Ghraib und Guantanamo verloren insbesondere die USA ihre moralische und politische Autorität, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Umsetzung des Marshall-Plans so erfolgreich in Europa behauptet hatten. Auch die Chance, die positiven Aspekte von Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie zu einem neuen, zukunftstauglichen System zu integrieren, wurde vertan.
Die Welt erscheint heute führungslos, und so ist es kaum verwunderlich, dass jeder noch so kleine, scheinbar lokale Konflikt sich schnell zum Flächenbrand ausweitet. Der 11. September 2001 und seine Folgen, die Kriege im Nahen Osten, der Ukraine-Konflikt - all dies wäre so nicht denkbar, hätte der Westen eine neue Balance gefunden und dadurch seine Verantwortung nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich ausgefüllt. Es gibt stattdessen ein Machtvakuum in der internationalen Arena. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Europa und zumal Deutschland obliegt, in dieser schwierigen Zeit eine größere Verantwortung zu übernehmen.
Deutschland hat lange Zeit - aus guten Gründen - keine Führungsansprüche erhoben, sondern eine Politik des Konsenses und der Kooperation verfolgt, besonders im Kontext der Europäischen Union. Auch in Zukunft sollte es keine deutschen Alleingänge geben. Dennoch kann die Bundesrepublik eine aktivere außenpolitische Rolle als bisher spielen.
Der geglückte Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war nur durch internationale Hilfe möglich. Aus dieser besonderen Geschichte wächst Verantwortung - und kein Land weiß dies besser als die Bundesrepublik. Sie kann heute viele notleidende Menschen auf der Flucht langfristig und glaubhaft unterstützen. Das sollte sie tun. Die deutsche Geschichte ist eine demokratische Erfolgsgeschichte. Aus ihr erwächst eine Pflicht, anderen Ländern und Menschen einen ähnlichen Wiederaufbau zu ermöglichen.
Deutschland kann und müsste Druck auf Israel ausüben. Es geht um dessen Zukunft
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Als Jude lebe ich seit 23 Jahren in Berlin, und dies wäre für mich nicht möglich, hätte ich nicht das Gefühl, dass die Deutschen eine tiefe und ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit hinter sich haben. Ich bin voller Bewunderung hierfür, denn kein anderes Volk hat etwas Vergleichbares geleistet. Aber diese Phase der Selbstreflexion sollte nicht folgenlos für die Außenpolitik bleiben.
Im israelisch-palästinensischen Konflikt hält sich Deutschland zurück, um das deutsche Verhältnis zu Israel nicht zu belasten. Eine Lösung dieses Konflikts ist aber ohne eine deutsche Einflussnahme auf die israelische Politik nicht denkbar. Deutschland kann und müsste Druck auf Israel ausüben, denn letztlich geht es um die geistige und politische Zukunft des Staates Israel. Die Logik ist einfach: Deutschland hat sich der Sicherheit des Staates Israels verpflichtet. Langfristig kann es diese aber nur geben, wenn dem palästinensischen Volk eine gerechte Zukunft in einem eigenen Staat gesichert wird. Sonst wird sich die Geschichte in jener Region von Krieg zu Krieg wiederholen und es wird ein permanentes, untragbares Unentschieden geben. Einer wusste das genau: der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin: "Ich war Soldat und weiß als solcher, dass Israel Kriege gegen Syrien, Libanon und Ägypten gewinnen kann, und vielleicht sogar gegen alle drei Staaten gemeinsam. Aber Israel kann keinen Krieg gegen die Palästinenser gewinnen. Meine erste Verpflichtung ist gegenüber der Sicherheit der israelischen Bevölkerung, und ich kann dieser Verpflichtung nur gerecht werden, wenn wir Frieden mit den Palästinensern schaffen." Diese Aussage kostete Rabin das Leben.
Es ist Deutschlands Aufgabe, Israels Regierung ebendies klarzumachen: Dass es auf Dauer nur eine Zukunft für Israel gibt, wenn seine Regierung zum echten Friedensschluss mit den Palästinensern bereit ist. Dass dies umgekehrt auch für die Palästinenser rings um die Hamas gilt, muss nicht betont werden. Beide Seiten müssen verstehen lernen, dass sie gesegnet oder verdammt sind, zusammen zu leben und dass Hass, territoriale und ethnische oder religiöse Ausgrenzung und Terror noch niemals in der Geschichte zum Frieden geführt haben, sondern allenfalls zu Toten, zu immer mehr Toten. Auch das ist eine bittere historische Lektion, die Deutschland gelernt hat. Sie kann und sollte zum Maßstab seiner Außenpolitik werden.
Daniel Barenboim, 71, ist Dirigent und Pianist
Gastkommentar
Deutschlands Verantwortung
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Von Daniel Barenboim
Die Welt erscheint uns dieser Tage unsicherer denn je. Konfliktherde im Nahen Osten, in Afrika und in Osteuropa, Hungersnöte und Krisen wie die Ebola-Epidemie dominieren unser kollektives Bewusstsein. Und unsere Regierungen sind gespalten darüber, welche Antworten die richtigen sind. Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Unterdrückung und Armut. Europa erscheint diesen Menschen als letzter, sicherer Zufluchtsort. Die reichen Nationen des Westens sind sozial und moralisch gefordert. Der 25. Jahrestag des Mauerfalls bietet einen guten Anlass, über den Zustand der Welt und über die besondere Verantwortung des geeinten Deutschlands und ganz Europas in diesen schwierigen Zeiten nachzudenken.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus resultierenden Aussicht auf eine neuen Weltordnung, kippte das prekäre Gleichgewicht der Großmächte. Es hätte eine unangefochtene, eindeutige Hegemonie der USA und Europas entstehen können, da sich ja die westlichen Systeme der Demokratie und des Kapitalismus durchgesetzt hatten. Der Westen, mit den USA an der Spitze, hätte die internationale Politik dieser neuen Zeit maßgeblich prägen können.
Stattdessen verspielte er seinen globalen Führungsanspruch. Durch ungesunden ideologischen Triumphalismus, durch Uneinigkeit und letztlich durch das moralische Versagen in internationalen Krisen wie dem Genozid in Ruanda, dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak mitsamt den skandalösen Foltergefängnissen in Abu Ghraib und Guantanamo verloren insbesondere die USA ihre moralische und politische Autorität, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Umsetzung des Marshall-Plans so erfolgreich in Europa behauptet hatten. Auch die Chance, die positiven Aspekte von Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie zu einem neuen, zukunftstauglichen System zu integrieren, wurde vertan.
Die Welt erscheint heute führungslos, und so ist es kaum verwunderlich, dass jeder noch so kleine, scheinbar lokale Konflikt sich schnell zum Flächenbrand ausweitet. Der 11. September 2001 und seine Folgen, die Kriege im Nahen Osten, der Ukraine-Konflikt - all dies wäre so nicht denkbar, hätte der Westen eine neue Balance gefunden und dadurch seine Verantwortung nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich ausgefüllt. Es gibt stattdessen ein Machtvakuum in der internationalen Arena. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Europa und zumal Deutschland obliegt, in dieser schwierigen Zeit eine größere Verantwortung zu übernehmen.
Deutschland hat lange Zeit - aus guten Gründen - keine Führungsansprüche erhoben, sondern eine Politik des Konsenses und der Kooperation verfolgt, besonders im Kontext der Europäischen Union. Auch in Zukunft sollte es keine deutschen Alleingänge geben. Dennoch kann die Bundesrepublik eine aktivere außenpolitische Rolle als bisher spielen.
Der geglückte Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war nur durch internationale Hilfe möglich. Aus dieser besonderen Geschichte wächst Verantwortung - und kein Land weiß dies besser als die Bundesrepublik. Sie kann heute viele notleidende Menschen auf der Flucht langfristig und glaubhaft unterstützen. Das sollte sie tun. Die deutsche Geschichte ist eine demokratische Erfolgsgeschichte. Aus ihr erwächst eine Pflicht, anderen Ländern und Menschen einen ähnlichen Wiederaufbau zu ermöglichen.
Deutschland kann und müsste Druck auf Israel ausüben. Es geht um dessen Zukunft
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Als Jude lebe ich seit 23 Jahren in Berlin, und dies wäre für mich nicht möglich, hätte ich nicht das Gefühl, dass die Deutschen eine tiefe und ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit hinter sich haben. Ich bin voller Bewunderung hierfür, denn kein anderes Volk hat etwas Vergleichbares geleistet. Aber diese Phase der Selbstreflexion sollte nicht folgenlos für die Außenpolitik bleiben.
Im israelisch-palästinensischen Konflikt hält sich Deutschland zurück, um das deutsche Verhältnis zu Israel nicht zu belasten. Eine Lösung dieses Konflikts ist aber ohne eine deutsche Einflussnahme auf die israelische Politik nicht denkbar. Deutschland kann und müsste Druck auf Israel ausüben, denn letztlich geht es um die geistige und politische Zukunft des Staates Israel. Die Logik ist einfach: Deutschland hat sich der Sicherheit des Staates Israels verpflichtet. Langfristig kann es diese aber nur geben, wenn dem palästinensischen Volk eine gerechte Zukunft in einem eigenen Staat gesichert wird. Sonst wird sich die Geschichte in jener Region von Krieg zu Krieg wiederholen und es wird ein permanentes, untragbares Unentschieden geben. Einer wusste das genau: der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin: "Ich war Soldat und weiß als solcher, dass Israel Kriege gegen Syrien, Libanon und Ägypten gewinnen kann, und vielleicht sogar gegen alle drei Staaten gemeinsam. Aber Israel kann keinen Krieg gegen die Palästinenser gewinnen. Meine erste Verpflichtung ist gegenüber der Sicherheit der israelischen Bevölkerung, und ich kann dieser Verpflichtung nur gerecht werden, wenn wir Frieden mit den Palästinensern schaffen." Diese Aussage kostete Rabin das Leben.
Es ist Deutschlands Aufgabe, Israels Regierung ebendies klarzumachen: Dass es auf Dauer nur eine Zukunft für Israel gibt, wenn seine Regierung zum echten Friedensschluss mit den Palästinensern bereit ist. Dass dies umgekehrt auch für die Palästinenser rings um die Hamas gilt, muss nicht betont werden. Beide Seiten müssen verstehen lernen, dass sie gesegnet oder verdammt sind, zusammen zu leben und dass Hass, territoriale und ethnische oder religiöse Ausgrenzung und Terror noch niemals in der Geschichte zum Frieden geführt haben, sondern allenfalls zu Toten, zu immer mehr Toten. Auch das ist eine bittere historische Lektion, die Deutschland gelernt hat. Sie kann und sollte zum Maßstab seiner Außenpolitik werden.
Daniel Barenboim, 71, ist Dirigent und Pianist
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