Wednesday, August 27, 2014

Für eine neue europäische Entspannungspolitik

Die Eskalation des Konfliktes mit Russland ist eine Sackgasse

von Karl Müller - Zeit-Fragen, 26. August 2014

Vor mehr als 50 Jahren, am 15. Juli 1963, hielt Egon Bahr, der damalige aussenpolitische Vordenker der deutschen SPD, in der Evangelischen Akademie im bayerischen Tutzing eine Rede, welche die Geschichte beeinflusste und in die Geschichte eingegangen ist. Die Rede hatte den Titel «Wandel durch Annäherung». Egon Bahr hielt diese Rede knapp zwei Jahre nach dem Bau der Mauer rund um West-Berlin seit dem 13. August 1961 und weniger als ein Jahr nach der Kuba-Krise im Oktober 1962.
Innerhalb der politischen Eliten der westlichen Staaten hatte ein Wandel im Denken begonnen. Der Kalte Krieg, der auf pure Konfrontation gesetzt hatte, war bedrohlich eskaliert. Keine Seite hatte einen «Sieg» erringen können. Statt dessen waren die «Kosten» des Kalten Krieges immer weiter gestiegen. Der Bau der Mauer in Berlin war Sinnbild einer Zementierung der deutschen Teilung, und mit der Kuba-Krise wäre die Welt um Haaresbreite in einer atomaren Katastrophe geendet.
Damals setzte sich Schritt für Schritt die Erkenntnis durch, dass Völker und Staaten in Europa und in der Welt auch dann friedlich zusammenleben und kooperieren müssen und können, wenn sie unterschiedlichen Machtblöcken angehören und unterschiedliche Vorstellungen von der Gestaltung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und poli­tischen Lebens haben. Mehr noch: Man fasste damals die Hoffnung, dass ein «Wandel durch Annäherung» möglich sei, also Schritte aufeinander zu Krisen und Konflikte mindern sowie Spannungen und eine Eskalation verhindern könnten. Auf westlicher Seite bekam diese Politik den Namen «Entspannungspolitik». Schon seit Mitte der fünfziger Jahre hatten sowjetische Politiker von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer «friedlichen Koexistenz» gesprochen.

Erneute Konfrontation mit Russland

Aber schon die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts und dann vor allem das Ende des Ostblocks im Jahr 1990 haben die Erfahrungen der zwei Jahrzehnte zuvor vergessen lassen. Wie berauscht von seinem «Sieg» sucht der Westen seitdem die Alleinherrschaft. Nun schon seit mehr als 10 Jahren, seit dem ersten Amtsantritt des russischen Präsidenten Vladimir Putin, suchen mächtige Kräfte im «Westen», angeführt aus den USA, wieder die offene Konfrontation mit Russland.
Im Jahrzehnt zuvor, nach dem Ende der Sowjetunion, hatten diese Kräfte versucht, das neue Russland so willfährig zu machen, dass es sich für ihre Interessen widerstandslos instrumentalisieren liess. Die Folgen für das Land waren verheerend. Es versank im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Chaos und drohte zu kollabieren. Die Nato verschob ihre Grenzen – gegen die Absprachen mit der sowjetischen Führung vor der Auflösung des Warschauer Paktes – immer weiter in Richtung russischer Westgrenze. Unruhen und Separationsbestrebungen im Inneren Russlands wurden von aussen befördert. Immer mehr westlich beeinflusste Nichtregierungsorganisationen, aber auch andere Kräfte in verantwortlichen Positionen innerhalb der russischen Gesellschaft betätigten sich als eine Art fünfte Kolonne.
Das alles lässt sich heute für jeden nachvollziehbar nachweisen. Es waren die Jahre der «einzigen Weltmacht» USA. Die USA und die Nato hielten sich nicht mehr an die Regeln des Völkerrechts, sondern setzten allein auf ihre Macht und ihre Machtmittel. Der neue russische Präsident Putin versuchte gegenzusteuern. Das machte ihn im Westen zum «Staatsfeind Nr. 1».
Die heutige Konfrontation hat ihre Wurzeln nicht in der inneren Entwicklung in der Ukraine und auch nicht in der westlichen oder russischen Ukraine-Politik. Sie hat viel tiefere Ursachen. Seitdem Russland nicht mehr bereit ist, sich wie eine Kolonie des Westens erniedrigen und ausbeuten zu lassen, soll es in die Knie gezwungen werden.
Die westliche antirussische Propaganda hat nicht erst im vergangenen Herbst angefangen, sie wird seit Jahren betrieben. In den letzten Monaten und Wochen ist sie wegen der zentralen Bedeutung der Ukraine im Machtkampf gegen Russland eskaliert und hat auf westlicher Seite manichäische Züge angenommen. Sie wird Russland und der russischen Politik nicht gerecht. Und sie führt in eine Sackgasse – ähnlich wie der Kalte Krieg der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nato setzt auf Konfrontationsstrategie

Typisch für eine Konfrontationspropaganda, aber völlig realitätsfern lesen, hören und sehen wir in unseren westlichen Leitmedien Tag für Tag, dass in Russland heute alles «böse» sei, vor allem die Spitze der Regierung. Seit ein paar Wochen hat der Westen Russland mit Sanktionen belegt. Nun will die Nato die Verträge mit Russland, die nach dem Kalten Krieg geschlossen wurden, aufkündigen, im Osten Europas aufrüsten und das «Feindbild Russland» in offiziellen Beschlüssen festschreiben. Dass Philip Breedlove, der oberste militärische Befehlshaber der Nato in Europa, der deutschen Zeitung Welt am Sonntag (17. August) erklärt hat, ein ähnliches Verhalten Russlands wie auf der Krim gegen ein Nato-Mitgliedsland würde als Kriegsakt gegen die Nato gewertet, hat keinerlei realistischen Hintergrund, sondern ist reine Stimmungsmache und Kriegspropaganda.
Für seine Aussage, Russland bedrohe die baltischen Staaten, hat Breedlove keinen einzigen Beleg vorgelegt. Statt dessen spricht der US-General dunkle Drohungen aus: «Ich möchte an eines klar erinnern: Wenn die Nato ausländische Kräfte in ihr Hoheitsgebiet einsickern sieht, und wenn wir dieses Vorgehen einer Aggressornation nachweisen können – dann ist das Artikel fünf. Dann tritt der Bündnisfall ein. Das bedeutet eine militärische Antwort auf die Aktionen dieses Aggressors.» Wozu haben der Generalsekretär der Nato Anders Fogh Rasmussen und der oben genannte Befehlshaber der Nato-Truppen in Europa in einem gemeinsamen Artikel am selben Tag im «The Wall Street Journal» ähnlich martialisch über eine vermeintliche russische Gefahr für die Nato-Staaten im Osten Europas geschrieben?

Politik gegen die Natur des Menschen

Manche behaupten, die Kriegspropaganda und die Pläne der Nato seien notwendige Verteidigungsanstrengungen gegen ein aggressives Russland. Das hält einer Überprüfung nicht stand. Die tatsächliche russische Politik bietet hierfür keine Grundlage.
Andere wiederum sagen, diese westliche Politik entspreche US-amerikanischen «Interessen». Manch einer fügt hinzu, sie entspreche aber auf keinem Fall europäischen «Interessen» … und schon gar nicht deutschen «Interessen». Auch darüber kann man nachdenken.
Aber kann es überhaupt ein «Interesse» an einer solchen Konfrontation und Eskalation geben? Der Kalte Krieg hat doch gezeigt, dass dieser Weg letztlich keinem «Interesse» dient. Die Verantwortlichen drehen an einem hochgefährlichen Rad, an dessen Ende eine Menschheitskatastrophe stehen kann, von der alle Menschen betroffen sein werden. Eine solche Politik ist ein Verbrechen, auch gegen die menschliche Natur. Die Geschichtsbücher sind voll von vermeintlich «rationaler» «Interessens»-Politik, die im Wahnsinn mündete.

Bewährte Instrumente der Friedenspolitik nutzen

Die Politik in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Instrumente geschaffen, um auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung den Weg der Konfrontation zu verlassen und zu Verhandlungslösungen zu kommen. Die am heutigen Konflikt beteiligten Staaten sind allesamt Mitglied der OSZE. Dort böte sich die Möglichkeit einer gleichberechtigten Debatte und Entscheidungsfindung. Mit der «Charta von Paris» vom November 1990 wurde offiziell das Ende des ersten Kalten Krieges verkündet und eine ideelle Grundlage geschaffen, auf der man heute aufbauen könnte. Man muss das Rad nicht neu erfinden, um die heutigen Probleme zu lösen – man muss es nur wollen.
Dieser Wille wird wachsen, wenn die Erkenntnis wächst, dass es auch im zweiten Kalten Krieg keinen «Sieger» geben kann, sondern nur eine Verhandlungslösung. Noch hoffen die Kräfte, die im Westen den neuen Kalten Krieg führen, auf einen Sieg. Sie setzen nicht nur auf das Schlachtfeld der Militärs, sondern auch auf einen Umsturz in Russ­land selbst. Die «farbenen Revolutionen» und der Maidan in der Ukraine sind die Muster.
Aber die Welt ist klüger geworden. Die Strategie des Umsturzes wird durchschaut. Gelingt es in Russland, den Umsturz zu verhindern, dann wird der Wille wachsen, den neuen Kalten Krieg zu beenden.    •
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