Tuesday, July 15, 2014


 Die Methode Schirrmacher

Oder: Wie man Meinungsführerschaft organisiert

Thomas Wagner
Der am 12. Juni dieses Jahres im Alter von nur 54 Jahren überraschend verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher machte das von ihm geleitete Feuilleton zum wichtigsten Forum für gesellschaftliche Debatten in diesem Land. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wer im Hinblick auf die Entwicklungen im Silicon Valley, die Expansion von Konzernen wie Amazon, Google und Facebook auf dem laufenden bleiben wollte, kam um das Studium des Feuilletons der FAZ in den vergangenen Jahren einfach nicht herum.

Der Respekt, den sich der Journalist im Establishment erwarb, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er sich als Zeitungsmacher wie kein zweiter um den Erhalt der kulturellen Hegemonie der bürgerlichen Klasse bemühte. Am Ende applaudierten ihm auch viele Linke. Und das nicht ganz zu Unrecht, denn er nutzte Methoden der Themensetzung, Debattenlenkung und Ideenproduktion, die es zu studieren lohnt.

Bürgerlicher Klassenverrat

Viel Aufsehen erregte Schirrmacher, als er mitten in der Finanzkrise die Rückkehr der Gesellschaftskritik begrüßte. »Sie wird auch gebraucht«, schrieb er in seinem Artikel »Ich beginne zu glauben, daß die Linke recht hat« (FAS, 15.8.2011). Doch wozu brauchte Schirrmacher die linke Kritik? Um die Befreiung der Lohnabhängigen voranzubringen? Selbstverständlich nicht. Ihm ging es um etwas ganz anderes, die Rettung bürgerlicher Werte vor jener Partei, die sich ihre Verteidigung auf die Fahnen geschrieben hatte: die CDU. Durch ihre unterwürfige Haltung gegenüber den Banken hatte deren Führung in seinen Augen Verrat an den Interessen und Lebensvorstellungen der eigenen Klasse begangen. Nun gehe es darum, »die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik« (ebd.) wieder zu finden. Die Zutaten für die von ihm als dringend notwendig erachtete Frischzellenkur glaubte er bei so unterschiedlichen linken Intellektuellen wie dem Sozialdemokraten Albrecht Müller (»Nachdenkseiten«), dem US-Anarchisten David Graeber und der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht zu finden.1 Daß Graeber auf marxistische Analysen verzichtete und Wagenknecht die Verklärung der Vordenker der »Sozialen Marktwirtschaft« für einen besonders gelungenen rhetorischen Kniff hielt, machte es Schirrmacher leicht, seinen Lesern deren Ideen als solche zu präsentieren, die sich in einem Links-rechts-Schema nicht unterbringen ließen. Auf dieser Grundlage entwickelte er eine Position, die sich nicht gegen die Logik einer Wirtschaftsordnung richtet, die ständig neue Ungleichheit produziert, sondern lediglich gegen einzelne ihrer Auswüchse.

Während er sich für die Kapitalismuskritik bei linken Analysen bedienen konnte, war das bei dem zweiten Schwerpunktthema, das er in seinem Feuilleton initiierte, nicht möglich. Was die Gefahren einer durch Konzerne monopolisierten digitalen Technologie betrifft, hatten nur wenige linke Autoren etwas Relevantes beizutragen.

Symptomatisch für das linke Versagen, eine gegenüber den Interessen des Silicon Valley kritische Debatte zu entwickeln, ist die von der netzpolitischen Sprecherin der Bundesstagsfraktion der Linkspartei, Halina Wawzyniak, im Jahr 2011 ausgegebene Parole. Statt »Enteignet Springer« müsse es nun heißen: »Lernt mit dem Internet umzugehen!« Wer fundierte Analysen und kenntnisreiche Stellungnahmen zum Demokratie gefährdenden Gebaren von Google, Facebook, Amazon und Co lesen wollte, konnte nicht auf entsprechende Publikationen der Rosa-Luxemburg- oder der Marx-Engels-Stiftung zurückgreifen, sondern war auf die regelmäßige Lektüre der dort veröffentlichten Texte internationaler Autorinnen und Autoren angewiesen.

Hervorzuheben sind die Kolumnen von Constanze Kurz sowie von Evgeny Morozov, einem linksliberalen US-Politologen, dessen Analysen das Fundament für eine marxistische Ideologiekritik des Internet bilden könnten. Im Feuilleton der FAZ war es, daß Netzpropagandist Sascha Lobo bekannte, das Internet sei »kaputt«. Hier gestand Konzernchef Mathias Döpfner, warum Google selbst einen Mediengiganten wie Springer das Fürchten lehrt, und hier versuchten der SPD-Spitzenkandidat für den Europawahlkampf, Martin Schulz, sowie Parteichef Sigmar Gabriel angesichts der Diskussion um staatliche und privatwirtschaftliche Totalüberwachung mit dem Thema Netzpolitik zu punkten.

Durch langfristige Investitionen in die Digitalwirtschaft sollte die Macht der US-Konzerne beschränkt und eine künftig stärker zentralisierte EU der Weg bereitet werden.2 Im Verlauf der Debatte brachten sich auch die Schriftstellerin Juli Zeh, FDP-Urgestein Gerhard Baum, der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner sowie Karin Göring-Eckardt, die Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag, mit ähnlich lautenden Forderungen in der FAZ in Stellung.

Ideenlabor

Anhand der Beispiele Kapitalismuskritik und Technologiediskussion läßt sich studieren, wie Schirrmacher Debatten als Labor und Experimentierfeld für neue Ideen initiierte, mit deren Hilfe die bürgerliche Klasse ihre Meinungsführerschaft auch in Krisensituationen zu festigen und auszubauen versucht. Das Feuilleton der FAZ fungierte als Ort der Selbstverständigung von Eliten, die ihre Bedeutung dadurch unterstreichen, daß sie ihre Diskussionen einmal nicht in Hinterzimmern führen, sondern öffentlich zelebrieren. Es war, wie die Diskussion im Rahmen der Finanzkrise zeigt, unter Schirrmachers Leitung flexibel genug, um auch linken Stimmen ein Forum zu bieten, wenn die Weisheit der sonst konsultierten bürgerlichen Experten an ihr Ende gekommen zu sein schien.

»Es war ihm völlig gleichgültig, aus welcher ›Schule‹ oder aus welcher ›Partei‹ (im weiten wie im engen Sinne des Wortes) ein Argument kam, wenn er es, nach sorgfältigem Abwägen, für wichtig und gut befunden hatte«, schrieb Schirrmachers Herausgeberkollege und Interimsnachfolger Günther Nonnenmacher in seinem Nachruf in der FAZ (14.6.2014): »Es ging ihm um die besten Argumente im Wettbewerb um die Deutungshoheit über die großen gesellschaftlichen Fragen.«

Ob Schirrmacher dafür die Überlegungen des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zur Erlangung und Verteidigung der kulturellen Hegemonie studiert hat? Vielleicht. Notwendig wäre das nicht gewesen. Denn sein Selbstverständnis als Bürger enthielt schon den Kern einer erfolgsträchtigen hegemonialen Strategie. Sein Verständnis des Bürgerlichen, erläuterte die taz (13.6. 2014), lief nämlich auf eine Haltung hinaus, »die Respekt allen gegenüber bekundet und die allen eine Teilhabe ermöglicht. Eine die allen zuhört, die Impulse aufgreift, die sich nicht verschließt.« Es ist genau diese Haltung, die es ihm ermöglichte, Ideen nicht allein deswegen zu verwerfen, weil sie von seinem Gegner stammen, sondern sie »als diskursives Ersatzteillager« (Sebastian Friedrich) zu nutzen, wenn es ihm zur Restauration der bürgerlichen Gesellschaftskritik erforderlich schien.

Lernen vom Klassenfeind

Wer nicht im eigenen Saft schmoren will, muß Erkenntnisse, die andernorts gewonnen wurden, aufgreifen und prüfen, ob und wie sie für die eigenen Zwecke zu gebrauchen sind. Und zwar selbst dann, wenn sie vom Klassenfeind stammen. Mit diesem Leitgedanken hat Frank Schirrmacher das Feuilleton der FAZ auf zentralen Feldern der gesellschaftlichen Diskussion zur Meinungsführerschaft gebracht. Wer das eigene Ideenarsenal aufzufrischen bemüht ist, tut gut daran, auch den Argumenten und Beobachtungen des Gegners Platz einzuräumen. Auf diese Weise können sie besser studiert, geprüft, wo es möglich ist: integriert, und wo es nötig ist: fundierter verworfen werden.

Um auf das Beispiel der Technologiediskussion zurückzukommen. Was diesen Bereich betrifft, ist die Linke dazu gezwungen, auf die bürgerliche Diskussion zurückzugreifen, um die dort formulierten Einsichten in die Macht der Konzerne und in die Ideologie des Silicon Valley zur Entwicklung einer eigenständigen, klassenbewußten Position weiterzuentwickeln.

Allerdings sind diesem Verfahren auch Grenzen gesetzt. Eine gelassene, souveräne und aufgeschlossene Haltung fällt aus einer Position der Stärke vergleichsweise leicht.

Linker Journalismus befindet sich auch materiell in einer ungünstigen Situation. Es fehlt vor allem an Zeit und finanziellen Ressorucen. Daß die Durchsetzung eines Gedankens viel mit der Auflagenhöhe des betreffenden Presseorgans zu tun hat, war einem Frank Schirrmacher immer klar.

Linke Impulse

Hinreichender Grund, entmutigt zu werden, ist das jedoch nicht. Zum einen gibt es auch bei den auflagenstarken bürgerlichen Zeitungen deutliche Spielräume. So war Schirrmacher beim Setzen von Themen und der Initiierung von Debatten erkennbar erfolgreicher als vergleichbar große Blätter wie die Süddeutsche Zeitung oder die Wochenzeitung Die Zeit.

Übertragen auf die Situation einer kleinen marxistischen Zeitung bedeutet das: Auch hier sind die Spielräume größer, als man vielleicht zunächst glauben mag. Die junge Welt kann auf die Solidarität einer im hohen Maße selbst politisch aktiven Leserschaft rechnen, die Informationen und Gedanken aus ihrer Zeitung in einem erstaunlichen Maße bis in bürgerliche Schichten hinein weiter zu verbreiten vermag. Zum Abschluß ein Beispiel, wo das gelungen ist: Der anarchistische Umweltaktivist Michael Wilk hatte bereits Ende der 1990er Jahre einige kritische Beiträge zur Vereinnahmung, Neutralisierung und Zerschlagung von Protestbewegungen mit Hilfe von Bürgerbeteiligungsverfahren veröffentlicht.3 Doch eine breite Diskussion kam erst in Gang, als das Thema-Ressort dieser Zeitung ab 2007 regelmäßig kritische Beiträge zu dieser »Mitmachfalle« veröffentlichte.

Anmerkungen
1 Ein Vorspiel hatte diese Einbindungspraxis in Schirrmachers Verbeugung vor dem kommunistischen Dichter Peter Hacks, dessen »politische Exzentrik« (FAZ, 10.3.2008) die bürgerlichen Leser ertragen müßten, um seine »hinreißende Intelligenz« (ebd.) zu genießen. Durch die »sozialistische Bannerwerbung« würde die Lektüre der »ästhetischen, künstlerischen und philologischen Schriften« (ebd.) des »Obergenies« (ebd.) erst richtig interessant. Dafür nahm Schirrmacher in Kauf, »daß der, den er verehrt, ihn selbst, um es milde auszudrücken, verworfen hätte« (ebd.). Nach dieser ungelenken und beinahe devoten Geste gegenüber dem auch und gerade nach dem Anschluß loyalen DDR-Bürger Hacks muß Schirrmacher das Lob für die »Nachdenkseiten«, den Blog »des unverzichtbaren Albrecht Müller« (FAS, 15.8.2011), eher leichtgefallen sein.
2 Frank Schirrmacher selbst war es, der in Sachen digitaler Freiheit als erster die europapolitische Karte gezogen hatte. In seinem 2013 veröffentlichten Buch »Ego. Das Spiel des Lebens« hatte er bereits die Entwicklung europäischer Suchmaschinen angeregt, am 8.3.2014 forderte er in seinem programmatischen Artikel »Digitale Autonomie Europa 3.0«, die EU solle »neben China und Amerika, eine eigene technologische Gründerzeit« ins Werk zu setzen versuchen.
3 Kürzlich erschien: Michael Wilk/Bernd Sahler: Strategische Einbindung. Von Mediationen, Schlichtungen, Runden Tischen. Und wie Protestbewegungen manipuliert werden. Verlag Edition AV, Lich 2014. Eine ausführliche Besprechung folgt am kommenden Sonnabend an dieser Stelle.
Thomas Wagner ist Literaturredakteur im Feuilleton dieser Zeitung. Am 25.1.2014 erschien von ihm an dieser Stelle der Essay »Tiefer schürfen. Internetdebatte: Auch für die Netzpolitik gelten die Maßgaben des Klassenkampfs. Eine Antwort auf Sascha Lobo und Evgeny Morozov«.
21.06.2014 / Wochenendbeilage / Seite 6 (Beilage)


Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2014/06-21/006.php
(c) Junge Welt 2014

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