Das Cafe Sibylle an der Berliner
Karl-Marx-Allee 72 hat Tradition. Nach jahrelanger denkmalgerechter
Sanierung ist es ein moderner und sympathischer
Veranstaltungs- und Begegnungsort geworden.
Am gestrigen, eisgekühlten
Bonifatius-Tag fand sich eine stattliche Anzahl Cafe-Hausbesucher
ein, um einem sachkundigen Vortrag über das ferne und
hochinteressante Wirtschaftswunderland China zu lauschen.
Der Landeskenner und des Chinesischen mächtige,
ehemalige DDR-Botschafter Rolf Berthold* sprach in einer
kurzen Stunde darüber, wie sich in den letzten 35 Jahren das Antlitz
des Landes grundlegend verändert hat. Mit atemberaubender jährlicher
Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts von 9-10% habe das
bevölkerungsreichste Land der Erde jetzt schon Rangplatz zwei
in der Weltwirtschaft erreicht, der Listenplatz eins liegt
erreichbar nahe.
Während China in der Vergangenheit von
argen Hungersnöten geplagt war, fuhr die Volksrepublik im letzten
Jahr mit 602 Millionen Tonnen Getreide das beste Produktionsergebnis
in seiner Geschichte ein. Das bedeute 400 Kilogramm pro chinesischer
Nase und übersteige damit sogar den Bedarf.
Ebenfalls im zurückliegenden Jahr
seien 13,1 Millionen neuer Arbeitsplätze in Städten und Gemeinden
geschaffen worden und das Land verfüge mit 3 800 Milliarden
US-Dollar über die umfangreichsten Devisenreserven der Welt.
Das pro Kopfeinkommen der Bevölkerung
auf dem Lande sei 2013 um 9,3% angestiegen. Die zwar immer noch
beträchtliche Einkommensschere zwischen Stadt und Land
schließe sich langsam aber stetig. Allein im
zurückliegenden Jahr hätten 92 Millionen Chinesen die Möglichkeit
zu Auslandsreisen wahrgenommen. Hochkarätige Investitionen in die
Infrastruktur des Landes würden unternommen, so etwa wurden über
neue 1 260 km Schienenstrecke Hochgeschwindigkeitszüge
eingesetzt, die über 200km pro Stunde zurücklegen könnten.
Der Yüan, die Währung der
Volksrepublik ist stabil. 9% des Welthaußenhandels werden bereits in
Yüan abgehandelt, die freie Konvertierbarkeit sei in Vorbereitung.
Dieser dynamischen Entwicklung und der
Landesvision von einem Sozialismus chinesischer Prägung
mag es geschuldet sein, dass die derzeitige Hegemonialmacht USA
und ihre NATO-Verbündeten diesen machtvollen Konkurrenten gerne
ausgeschaltet wissen wollen.
Auch China ist kein Land ohne
Probleme, trotz der umsichtigen Partei und ihrer modernen Führung.
Aber das Land scheint sich seiner Probleme voll umfänglich
bewusst und bereit, diese tatkräftig anzupacken.
In der Tatsache, dass China aus den
eigenen und aus den fremden Fehlern der UdSSR und seiner
ehemaligen Verbündeten gelernt habe, liege der Grund dafür, dass
die vom Ausland orchestrierten und finanzierten "Bunten
Revolutionen" hier nicht greifen würden, bisher.
Nach dem über Tibet organisierten
Diversionsversuch(e) während der olympischen Spiele 2008, den
Unruhen in der Uigurenprovinz Xinjiang 2009, den Auftritten
der Falun Gong-Sekte und dem Rummel um den
"Künstler" Ai Weiwei seit 2011 seien alle Versuche
der Destabilisierung bisher erfolgreich zurück gewiesen
worden.
1975 schon habe Mao davor gewarnt, die
Fehler der UdSSR zu wiederholen, die in eine Sackgasse führen
würden (!). Stattdessen gelte es der Besonderheiten des halbfeudalen
und halbkolonialen Landes gerecht zu werden und für seine
Masse an Bauern einen dem Lande entsprechenden Weg zu finden. Rolf
Berthold meint allen Kritikern zum Trotz: "China ist auf einem
Weg zum Sozialismus, der Erfolg verspricht".
Vier Grundprinzipien - nach der 1979
eingeleiteten Politik der Reformen beibehalten- seien Garanten
für diesen Weg des Erfolgs:
- Festhalten am sozialistischen
Weg
- Festhalten an der Diktatur der
Volksdemokratie, am sozialistischen
Staat
- Festhalten an der führenden Rolle
der Kommunistischen Partei
- Festhalten am
Marxismus-Leninismus
Dies gesagt, seien wichtige Reformen
zur Ankurbelung der Wirtschaft getätigt worden, so zum Beispiel:
Es gibt - aus der
bürgerlich-demokratischen Revolution herrührend - acht weitere
Parteien in China, die gemeinsam mit der KP den Weg des Landes
bestimmen.
Waren 1979 nur ein Prozent der
Wirtschaft in privater Hand, so erfolgte jetzt eine Öffnung für
privatwirtschaftliche Unternehmen und eine intensive Zusammenarbeit
mit dem kapitalistischen Ausland. Nach 1989 habe man die Werke von
Marx/Engels und Lenin noch einmal neu studiert und etwa bei Engels
gefunden, dass Aktien eine Übergangsform hin zu
gesellschaftlichem Eigentum bilden können. Durch breite Streuung
der Aktien in Händen verschiedener gesellschaftlicher wie auch
privater Eigentümer könne auch ein Interesse an der
Verteidigung des Eigentums bei den Akteuren geweckt werden.
Aktiengesellschaften seien deshalb nicht von vorn herein
Privatbetriebe.
Die Befugnisse der Zentralregierung
würden schrittweise dezentralisiert. Dort wo dies vonVorteil sei,
würden Beschlussfassungskompetenzen an die Provinzen oder an große
Städte delegiert.
Das System der Strafprozessordnung
werde umstrukturiert. Schrittweise würde die Verhängung der
Todesstrafe reduziert.
Die Politik der Einkindfamilie
würde vorsichtig geöffnet.
Dem Markt würde größere Bedeutung
eingeräumt; er entscheide über die Verteilung der Ressourcen, aber
unstrittig sei in China, dass es ohne Regierung, also zentrale
Steuerung auch nicht gehe.
Wenn die Rede sei, von der
perspektivischen Zulassung privater Banken, dann handele es
sich um klare Beschränkung auf vier bis fünf Banken in den
Sonderwirtschaftszonen, die eine Konvertierbarkeit des Yüan
einleiten sollten. Noch sei keine solche Bank gegründet worden.
Alles geschehe mit großer Behutsamkeit und mit Bedacht.
Wenn etwa die Rechte der Pachtbauern
auf ihren Pachtboden gestärkt werden sollten, dann gehe es darum,
diese zu schützen etwa gegen Eingriffe privater Investoren oder zu
forsches staatliches Investitionsprogramm.
Die Regierung habe ehrgeizige Programme
vorgelegt zur Hebung der Lebensumstände für 300 Millionen Bürger,
die aus Dörfern kommend in Städten und Gemeinden anzusiedeln seien,
was ein großes Wohnungsbauprogramm zur Voraussetzung habe. So wolle
man allein im laufenden Jahr 2014 4,8 Millionen staatlicher
Wohnungen bauen. Man wolle ebenfalls noch in diesem Jahr 10
Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, die Armut auf dem Lande für
10 Millionen Menschen verringern und dergleichen ehrgeizige
Vorhaben mehr realisieren. Natürlich gehe das alles nicht ohne
Widersprüche vor sich. Nicht jedem Dorfbewohner sei daran gelegen,
in eine moderne Hochhauswohnung umzuziehen…
Zur Außenpolitik gab es leider nur
eine paar kurze Hinweise, bevor die nächste Veranstaltung im
beliebten und turbulenten Café seinen Tribut zollte:
China fokussiert insbesondere nach 1989
auf die friedliche Koexistenz, lehnt Mitgliedschaft im illustren
Kreis der G8-Staaten, die jetzt nach dem quasi Ausschluss
Russland wieder G7 heißen ab, engagiert sich aber immer ganz anders
zusammengesetzten Kreis der G20 und in der APEC (Asian Pacific
Economic Cooperation, inclusive USA und Japan) und seit 2001 im
Kreise der BRICS Staaten, seit 2010 unter Einbeziehung Südafrikas.
Dieser lockere Staatenzusammenschluss, der sich einmal jährlich
trifft, hat in erster Linie ökonomische Aufgaben, auf chinesisch
heißt dieses BRICS-Backstein(e)gebilde "Goldbarren“.
Die BRICS-Staaten umfassen 40% der
Weltbevölkerung, 27% des Territoriums der Erde und erbringen 22%
der Weltwirtschaft . Perspektivisch könnte der lockere
Staatenverbund ein enormes politisches Gewicht haben. Er umfasst die
Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Allerdings gibt es gewichtige
Abhängigkeiten von einzelnen dieser Länder gegenüber dem noch
Imperium, das ein gemeinsames politisches Auftreten und die
Geltendmachung anderer Schwerpunkte noch deutlich erschwert.
Akzente sind aber durchaus erkennbar.
Gerne hätten die Zuhörer nachgehakt
und noch viel mehr von dem sachkundigen Referenten erfahren, aber für
diesmal blieb nur der Umzug nach Vietnam (ins vietnamesische
Restaurant), ein zweites (Zweiers) asiatischen Land, in dem
Herr Berthold auch einstmals in der (die) diplomatischen
Vertretung der DDR tätig war (leitetete).
(vom Referenten durchgesehene Fassung)
Irene Eckert
______
*Rolf Berthold China 2003. Auf dem
Weg zum Sozialismus. Neue Impulse Verlag, Essen 2003, ISBN
3-910080-43-X
und
„Chinas Weg – 60 Jahre
Volksrepublik“, 2009, Verlag Wiljo Heinen, Berlin,
ISBN 978-3-939828-46-4
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