Friday, March 7, 2014

Wie ist die neue ukrainische "Regierung" entstanden? Brief aus Bern

Zur Erinnerung blättern wir zurück im „Bund“ aus Bern (und zweimal in der NZZ)


4.12.2013: „Soeben hat die Janukowitsch-Mehrheit im Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Klitschkos Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2015 gefährden könnte. Zur Wahl antreten darf demnach nur, wer seit mindestens zehn Jahren in der Ukraine Steuern gezahlt hat. Der Weltstar Klitschko zahlt in Hamburg, wo sein Boxstall beheimatet ist.

11.12.2013: Angebote des Präsidenten zu Gesprächen am runden Tisch lehnte Oppostionsführer Arseni Jazenjuk gestern kategorisch ab.

21.1.2014: In der ukrainischen Hauptstadt Kiew sah es gestern Morgen aus wie im Krieg: ausgebrannte Busse, umgestürzte Autos, brennende Barrikaden, rauchende Abfallcontainer. Nach der friedlichen Demonstration vom Sonntag, an der erstmals im neuen Jahr wieder rund Hunderttausend Menschen teilgenommen hatten, griffen Dutzende gewaltbereite Demonstranten die Polizei an. Sie schlugen mit Stöcken und Ketten auf die Ordnungshüter ein, die sich unter ihren Metallschildern wie in einem Häuschen zu verschanzen suchten. Die total vermummten und mit Gasmasken ausgerüsteten Angreifer warfen Benzinbomben und Pflastersteine, die sie ausgegraben hatten, in die Reihen der Polizei, die beharrlich die Stellung hielt. Die Sicherheitskräfte feuerten sporadisch Tränengas und Blendraketen ab, was zu Verletzten auch unter Journalisten führte, gingen aber nicht zum Gegenangriff über. (...) Militante verteilten Schlagstöcke an Demonstranten. Bereits im Dezember waren radikale Regierungsgegner am Rande eines friedlichen Massenprotests mit Gewalt auf die Polizei losgegangen. Offenbar waren am Sonntagabend wieder die gleichen Kräfte am Werk, diesmal jedoch weit zahlreicher. Opposition und Regierung sind sich weitgehend einig, dass radikale nationalistische Schläger die Gewaltorgie ausgelöst haben. (...) Oleg Tjagnibok und Dmitro Kortschinski „verfügen über Schlägertrupps, deren Embleme zum Teil bei den Ausschreitungen zu sehen waren und die offen von einem Krieg gegen die Regierung reden. Unter den Angreifern waren zudem Neonazis und Fussballhooligans.

23.1.2014: Präsident Wiktor Janukowitsch rief das Land derweil zur Ruhe auf. (...) Er kam gestern Nachmittag mit den Anführern der Demonstranten, Witali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjagnibok, zu einem mehrstündigen Treffen zusammen. Über den Inhalt verlautete zunächst nichts. (...) Der Chef der nationalistischen Swobodapartei, der zumindest ein Teil dieser radikalen Schläger angehört, rief vielmehr zur entscheidenden Schlacht auf. „100-prozentige Mobilmachung im ganzen Land. Alle nach Kiew, alle auf den Maidan!“, erklärte Oleg Tjagnibok. Heute entscheidet sich endgültig das Schicksal des Landes.“


24.1.2014: Doch nun sind es nicht mehr Hunderttausende von friedlichen Demonstranten, die den Protest anführen, sondern eine kleine Gruppe gewaltbereiter Schläger. (...) Am Sonntag Abend hatte sich der gemässigte Oppositionsführer Witali Klitschko noch todesmutig zwischen die Fronten gestellt. Mit einem Megafon rief er die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit auf. Sie haben ihn ausgepfiffen. Inzwischen unterstützt auch Klitschko die gewaltbereite Fraktion der Demonstranten und erklärt, er werde die Demonstranten in den Kampf führen, wenn Janukowitsch nicht zurücktrete. Sein Kollege Arseni Jazenjuk sagt, er wolle lieber eine Kugel in den Kopf, als von diesem Ziel abweichen.

24.1. (anderer Artikel): Vertreter der radikalen Demonstranten, die an den Strassenschlachten mit der Polizei an vorderster Front beteiligt sind, warnen vor einem Bürgerkrieg, falls die Sicherheitskräfte sich nicht zurückziehen. „Das wird ein Massaker werden. In der Ukraine wird ein Guerillakrieg beginnen“, sagte Andrei Tarasenko laut einem Bericht von Radio Free Europe. Tarasenko ist der Koordinator einer Gruppe namens Rechter Sektor (Pravi Sektor), zu der sich nationalistische Organisationen zu Beginn des Massenprotests zusammengeschlossen haben.

27.1.2014: Die Anführer der Opposition haben sich von dieser Gewalt bisher nicht distanziert. Im Ausland ist daher der Eindruck entstanden, Schlägerbanden hätten den Maidan „gekapert“.

NZZ vom 8.2.2014: Das State Department dringt mit aller Kraft darauf, die Restauration der Verhältnisse vor der orangen Revolution durch Präsident Wiktor Janukowitsch und dessen Mentor im Moskauer Kreml zurückzudrängen, und zweifelt daran, dass die EU in der Lage ist, zu diesem Zweck genügend Härte zu zeigen.

19.2.2014: Die letzten Wochen waren relativ ruhig verlaufen, in den letzten Tagen waren sogar Anzeichen von Entspannung auszumachen. Am Sonntag hatten die Demonstranten unter internationaler Vermittlung einige besetzte Gebäude freigegeben und so teilweise die Bedingungen des Regimes für eine Amnestie erfüllt. Die Behörden ihrerseits hatten Ende letzter Woche alle verhafteten Demonstranten freigelassen. Bagger räumten grosse Teile der über Wochen erbauten Barrikaden ab, blockierte Strassen wurden wieder dem Verkehr übergeben.
Umso heftiger waren die neuerlichen Zusammenstösse. Die Demonstranten durchbrachen eine Absperrung vor dem Parlament, stürmten die Parteizentrale der regierenden Partei der Region und zündeten das Gebäude an. Am Abend wurde das Kiewer Rathaus wieder besetzt. Zudem wurde das Offiziershaus der Armee gestürmt. Die Streitkräfte reagierten verärgert. Sie hatten sich bisher aus dem Konflikt herausgehalten.

20.2.2014: Unter den Toten ist auch ein russischer Journalist, den Vermummte aus einem Taxi gerissen und erschossen haben. (...) Die Demonstranten hätten bei den neusten Unruhen mindestens 1500 Schusswaffen erbeutet. (..)
Merkel empfing am Montag Klitschko und seinen Verbündeten, den ukrainischen Oppositionellen Arsenii Jasenjuk. Die konservative „Bild“-Zeitung feiert derweil den Ex-Boxer seit Wochen als Helden von Kiew. Der Chef-Reporter des Blattes begleitet ihn auf Demonstrationen, bei Besuchen von verletzten Aktivisten im Spital oder an die Münchner Sicherheitskonferenz.

NZZ vom 21.2.2014: Alles ist anders geworden. Auch die Demonstranten sind nicht mehr die gleichen. Sie haben sich ausgerüstet, sie kämpfen bis zum Letzten, und unter ihnen gibt es zahlreiche höchst degoutante Typen, Vertreter der nationalistischen Partei „Swoboda“ und Rechtsextreme, denen man ohne weiteres zutraut, dass sie auf Polizisten schiessen. Und im Vergleich zu den riesigen, sachkundig errichteten Barrikaden von heute sind die damaligen ein Witz.
(...) Der Janukowitschs Partei angehörende Gouverneur der Region Lwiw, Oleh Salo, wurde vor Fernsehkameras gezwungen, handschriftlich ein Rücktrittsgesuch zu verfassen.

22.2.2014: Während der drei Monate (...) hat sich eine dritte Kraft etabliert: der sogenannte rechte Sektor, dem rechtsradikale Gruppierungen angehören. Sie waren es, die mit Ketten auf Uniformierte einprügelten, mit einem Bulldozer in Polizeireihen rasten, Verwaltungsgebäude besetzten und die Gewaltbereitschaft anheizten. Sie bezeichneten das Abkommen gestern unumwunden als „Augenwischerei“ – die „nationale Revolution“ gehe weiter. Die Radikalen wollen mitbestimmen bei der Ausgestaltung einer neuen Ukraine. Dies umso mehr, als sie nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass Janukowitsch nachgeben musste.

25.2.2014: Es wird nun zu einer Hexenjagd kommen, viel umfassender als jene nach dem Scheitern von Timoschenko und Juschtschenko. Jetzt kommen ja auch nicht gerade lauter honorige, anständige Leute an die Macht.

1.3.2014: Die Symbole des „Rechten Sektors“ sind verschwunden, die Politiker der rechtspopulistischen Partei Swoboda haben Kreide gefressen und geben sich als liberale Europafreunde. Offenbar sind sie der Meinung, dass ein pro-europäischer Kurs derzeit sogar bei ihren Wählern besser ankommt als dumpfe nationalistische Parolen. (...)
Aber dann gibt es Hunderte, vielleicht Tausende junge Männer, die den Maidan verteidigten und ihn heute in Tarnuniformen mit Baseballschlägern in der Hand kontrollieren. Sie sind militärisch in Einheiten organisiert, haben einen Stab und Kommandanten. (...) Die neue Regierung versucht, sie in die bestehenden militärischen Strukturen einzugliedern. Der Führer des Maidan, Andrej Paruby, wurde zum Leiter des Nationalen Sicherheitsrats ernannt, der Führer des „Rechten Sektors“, Dmitro Jarosch, zu seinem Stellvertreter.



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