Die sinnliche Freude bei der Erkenntnis um die Beschaffenheit der Welt wird in der jüngsten Berliner Inszenierung des im Exil 1939 entstandenen Stückes ausradiert. Völlig verloren geht Brechts Grundidee, dass die Wissenschaft das Schicksal der Menschen erleichtern kann, muss und wird. Als Voraussetzung nennt Brecht wissende Menschen, die sich für den Fortschrittsgedanken in Bewegung setzen, Menschen also, die begriffen haben, dass sie selbst letztlich ihres Schicksals Meister sind. In dieser Erkenntnis gründet letztlich Brechts eigene Freude am forschenden Denken. Die dauernd hysterisch kreischende Virginia, Tochter des Meisters Galilei, rückt völlig zu unrecht in den Vordergrund des Geschehens. Das ist auch deswegen schon konträr zu Brechts Anliegen, weil das Mädchen die Bigotterie und die Dummheit verkörpert. Die leibliche Tochter des Forschers ist also dumm, während der Ziehsohn intelligent ist und daher zu Galileis Lieblingsschüler wird. Das offenbar attraktive Mädchen aber wird vom Regisseur Petras bevorzugt und mit ihrer Hilfe verdrängt er die wunderbare Rolle ihrer Ziehmutter Frau Sarti. Diese von Brecht fürsorglich-mütterlich angelegte Figur wird in der aktuellen Inszenierung zur Sexgespielin des erkenntnishungrigen Wissenschaftlers degradiert. Für irrelevant wird in der Petraschen Inszenierung damit das ewige Bemühen der Rolle einer Haushälterin und Mutter erklärt, der es anheimfällt für das leibliche Wohl zu sorgen und den schwierigen Alltag im Forscherhaushalt zu meistern. Gar nicht mehr vor kommt Frau Sarti als Mutter des klugen Schülers und Gehilfen Andrea, der die Zukunft einer neuen Wissenschaftlergeneration verkörpert, wissbegierig, aufrichtig, wahrheitsliebend. Der Zuschauer kann ohne Textlektüre nicht wissen, dass der zu Beginn der Handlung erst elfjährige Knabe, der spätere Physiker Andrea, in den Galilei vernarrt ist, dem er alles zutraut, dem er seine Discorsi heimlich (!) übergibt, sozusagen sein Adotpivsohn ist. Andrea bildet bei Bercht das Gegenstück nicht nur zu seiner Stiefschwester und späteren Spionin Virginia, was unter Petras Regie auch entfällt. Er ist damit auch das Gegenstück zu dem perspektivisch von seiner Schwester erträumten reichen Bräutigam Ludovico. Den Gutsherrensohn, einen Dummbold und Pferdenarr will Galilei nicht unterrichten, dafür ist ihm seine Zeit zu schade. Wohl aber lehrt er jederzeit die, die fragen, denn sie verdienen Antwort ("Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration"). Das positive Lehrer-Schüler-Verhältnis soll aber nach Petras nicht sein. Stattdessen wird völlig sinnwidrig dem großen Mann Galilei spät noch ein inzestuöses Verhältnis zu der dummen, blind der Obrigkeit gehorchenden Virginia angedichtet. Der altersschwache Greis Galilei, der über seiner heimlichen Forscherarbeit erblindet, wird im Gorki-Theater von einem schwachen Schausspielerinterpreten als Säufernase charakterisiert. Die Inszenierung verurteilt anhand von Mätzchen die Zuschauer zum "Glotzen", anstatt sie, wie Brecht es will, zum Sehen, also zum erkennenden Denken und damit zum verändernden Handeln anzuleiten. Der Gestus des zeigenden Schauspielers wird abgelöst durch den Geist der seichten Unterhaltung. Stilistische Mittel sind von Robert Wilson abgekupfert.
Auch die Figur des intellektuell regen, dünnen Mönchs aus der Campagna wird verkannt. Er ist von Brecht als weiteres Gegenbild zu Ludovico konzipiert. Virginia Galilei will er nur so lange zur Frau als der Vater sich höchster Anerkennung erfreut, sich der Macht beugt und durch seine Wissenschaft keinen Aufruhr begünstigt. Schließlich würde ein solcher seinen Geschäftsinteressen schaden, die auf Ausbeutung der Campagna-Bauern ruhen. Die Erwiderung Galileis auf des Mönchleins Rede über die positive Rolle der kirchlichen Moral, die den kleinen Leuten ihr unveränderbares Schicksal erträglich machen will, fällt dem Streichstift nämlich ganz und gar zum Opfer. Verloren geht damit, dass Galilei dem wissbegierigen, armen, kleinen Mann der Kirche die Augen öffnet und ihm zeigt, dass es die Wissenschaft ist, die den geknechteten Campagna-Bauern ihr Los einmal erleichtern wird, falls sie in Bewegung kommen und sich rühren werden gegen ihr Schicksal: "Wenn sie nicht in Bewegung kommen und denken lernen, werden ihnen auch die schönsten Bewässerungsanlagen nichts nützen", sagt der Sterndeuter bei Brecht. Aber auch dieser, für Brecht zentrale Gedanke, entfällt. Der Satz "Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch wie wir durchsetzen" wird dagegen out of Kontext platziert und geht damit verloren. Verloren geht auch Galileis Gedanke: "Was ich weiß, muss ich weitersagen. Wie ein Liebender, wie ein Betrunkener." Wissen wollen und Wissen verbreiten, darin besteht die Leidenschaft des Renaissance-Mathematikers, weder im Trinken noch im Huren, wie es das Stück tendenziell nahelegt.
Verloren geht auch die Bedeutung der kleinen List im Kampf ums Überleben, die im Brechtschen Sinne keine Lüge ist, sondern Überlebenskunst. Vor allem aber dient die List der nachgeholten Erfindung des Fernrohrs ja der Erkundung des Laufs der Gestirne. Diese Sache aber, die ihm einige Scudi einbringt, wird im Gorki-Theater zum Wesensmerkmal eines betrügerischen Galileis hochstilisiert: "Groß ist nicht alles, was ein großer Mann tut" wird zum Leitmotiv, mit dem ihm auch unzüchtiges Verhalten gegenüber der leiblichen Tochter angehängt wird.
Völlig unbegriffen bleibt schließlich , dass der Mann aus Sinnlichkeit denkt! Eine Beobachtung, die Brecht dem neuen Papst, ehemals Barberini, in den Mund legt, dem einstigen Wissenschaftler und früheren Kollegen Galileos.
Unergründet bleibt weiter, die wieder zeitgemäße Rolle der Bigotterie, der Virginia verfallen ist, der Ignoranz, das kirchlich verordnete Festhalten an der Unwissenheit, die zur Verbreitung der Pest und auch zum Tode von Frau Sarti führt. Dieser Tod wird damit Galilei angelastet, der sie aus Liebe zur Wissenschaft nicht rechtzeitig aus der Stadt schaffen ließ.
Gestrichen wurde auch der für uns Heutige triftige Schlußgedanke Galileis:
"Wie es nun steht ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge die für alles gemietet werden können."
Vielleicht hätte diese Feststellung gegen Ende die Zuschauer nachdenklich entlassen. So bleibt uns nur die Hoffnung auf die Textlektüre.
Und es verbleibt uns der Verweis auf einen wichtigen Text von Professor Norman Paech über das nachgerade peinliche Versagen der Human- bzw. Rechts-Wissenschaft von heute.
Siehe Junge Welt vom 12.12 2012 "Unter Dauerbeschuß"
Auch die Figur des intellektuell regen, dünnen Mönchs aus der Campagna wird verkannt. Er ist von Brecht als weiteres Gegenbild zu Ludovico konzipiert. Virginia Galilei will er nur so lange zur Frau als der Vater sich höchster Anerkennung erfreut, sich der Macht beugt und durch seine Wissenschaft keinen Aufruhr begünstigt. Schließlich würde ein solcher seinen Geschäftsinteressen schaden, die auf Ausbeutung der Campagna-Bauern ruhen. Die Erwiderung Galileis auf des Mönchleins Rede über die positive Rolle der kirchlichen Moral, die den kleinen Leuten ihr unveränderbares Schicksal erträglich machen will, fällt dem Streichstift nämlich ganz und gar zum Opfer. Verloren geht damit, dass Galilei dem wissbegierigen, armen, kleinen Mann der Kirche die Augen öffnet und ihm zeigt, dass es die Wissenschaft ist, die den geknechteten Campagna-Bauern ihr Los einmal erleichtern wird, falls sie in Bewegung kommen und sich rühren werden gegen ihr Schicksal: "Wenn sie nicht in Bewegung kommen und denken lernen, werden ihnen auch die schönsten Bewässerungsanlagen nichts nützen", sagt der Sterndeuter bei Brecht. Aber auch dieser, für Brecht zentrale Gedanke, entfällt. Der Satz "Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch wie wir durchsetzen" wird dagegen out of Kontext platziert und geht damit verloren. Verloren geht auch Galileis Gedanke: "Was ich weiß, muss ich weitersagen. Wie ein Liebender, wie ein Betrunkener." Wissen wollen und Wissen verbreiten, darin besteht die Leidenschaft des Renaissance-Mathematikers, weder im Trinken noch im Huren, wie es das Stück tendenziell nahelegt.
Verloren geht auch die Bedeutung der kleinen List im Kampf ums Überleben, die im Brechtschen Sinne keine Lüge ist, sondern Überlebenskunst. Vor allem aber dient die List der nachgeholten Erfindung des Fernrohrs ja der Erkundung des Laufs der Gestirne. Diese Sache aber, die ihm einige Scudi einbringt, wird im Gorki-Theater zum Wesensmerkmal eines betrügerischen Galileis hochstilisiert: "Groß ist nicht alles, was ein großer Mann tut" wird zum Leitmotiv, mit dem ihm auch unzüchtiges Verhalten gegenüber der leiblichen Tochter angehängt wird.
Völlig unbegriffen bleibt schließlich , dass der Mann aus Sinnlichkeit denkt! Eine Beobachtung, die Brecht dem neuen Papst, ehemals Barberini, in den Mund legt, dem einstigen Wissenschaftler und früheren Kollegen Galileos.
Unergründet bleibt weiter, die wieder zeitgemäße Rolle der Bigotterie, der Virginia verfallen ist, der Ignoranz, das kirchlich verordnete Festhalten an der Unwissenheit, die zur Verbreitung der Pest und auch zum Tode von Frau Sarti führt. Dieser Tod wird damit Galilei angelastet, der sie aus Liebe zur Wissenschaft nicht rechtzeitig aus der Stadt schaffen ließ.
Gestrichen wurde auch der für uns Heutige triftige Schlußgedanke Galileis:
"Wie es nun steht ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge die für alles gemietet werden können."
Vielleicht hätte diese Feststellung gegen Ende die Zuschauer nachdenklich entlassen. So bleibt uns nur die Hoffnung auf die Textlektüre.
Und es verbleibt uns der Verweis auf einen wichtigen Text von Professor Norman Paech über das nachgerade peinliche Versagen der Human- bzw. Rechts-Wissenschaft von heute.
Siehe Junge Welt vom 12.12 2012 "Unter Dauerbeschuß"
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