Putins Notruf – und kaum einer hört hin. Betrachtungen im Schatten des US-Wahlkampfes
Waldai 2016: Unüberhörbar deutlich, und doch im Westen unter dem Getöse des amerikanischen Wahlkampfes nahezu ungehört, schickte der russische Präsident Wladimir Putin als Hauptredner der dreizehnten Waldai-Konferenz vom Ende Oktober, die inzwischen als östliches Gegenstück zur Münchner Sicherheitskonferenz gesehen werden muss, einen Notruf in die Welt: Nichts habe sich seit der letzten Konferenz zum Besseren gewendet, so leitete er seine Rede ein, tatsächlich, wäre es ehrlicher zu sagen, nichts habe sich geändert.[1]
Noch „ehrlicher“ wäre es, in Fortsetzung des Putinschen Komparativs festzustellen, dass genau dieses „nichts“, so paradox es klingen mag, das ist, was die Lage verändert hat – und zwar zum Schlechteren hin.
Ein kurzer Rückblick auf die Reden, die Putin bei den Konferenzen 2014 und 2015 hielt, mag das verdeutlichen und damit den Ton der Rede von 2016 verständlicher werden lassen.
Vom Angebot zur Mahnung
Die Rede vom elften Treffen 2014 stand unter der Frage „Weltordnung: Neue Regeln oder ein Spiel ohne Regeln?“. Die Rede enthielt, bei aller unüberhörbaren Kritik an der Einkreisungspolitik des Westens, die alle Reden Putins seit seinem Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ transportieren, ein klares Angebot. Angeboten wurde von Putin die aktive Beteiligung Russlands an der Stabilisierung der internationalen Ordnung durch gezielte gegenseitige Achtung und Stärkung der Souveränität aller Nationen auf Basis des für alle gleichermaßen geltenden Völkerrechtes im Rahmen ihrer Kooperation in der UNO. In dieses Angebot war die Wahrung der eigenen russischen Interessen ausdrücklich mit eingeschlossen:
„Russland hat seine Wahl getroffen“, erklärte Putin damals in voller Zuwendung zu Russlands „Partnern“, wie er seine westlichen Gegenüber nannte, „unsere Prioritäten bestehen in einer weiteren Vervollkommnung der demokratischen Institutionen und einer offenen Wirtschaft, in einer beschleunigten inneren Entwicklung unter Berücksichtigung aller positiven derzeitigen Tendenzen der Welt und der Konsolidierung der Gesellschaft auf Grundlage traditioneller Werte und des Patriotismus. Auf unserer Tagesordnung steht die Integration, diese Tagesordnung ist positiv und friedlich, wir arbeiten aktiv mit unseren Kollegen in der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der BRICS und anderen Partnern zusammen. Diese Tagesordnung zielt auf die Entwicklung von Beziehungen der Staaten untereinander und nicht auf Absonderung. Wir haben nicht vor, irgendwelche Blöcke zusammenzuzimmern oder uns in einen Schlagabtausch ziehen zu lassen. Jeder Grundlage entbehren auch Behauptungen, Russland sei bestrebt, irgendein Imperium wieder zu errichten oder verletze die Souveränität seiner Nachbarstaaten. Russland verlangt nicht nach irgendeinem besonderen, außerordentlichen Platz in der Welt, das möchte ich betonen. Indem wir die Interessen der anderen achten, möchten wir einfach, dass man auch unsere Interessen berücksichtigt und unsere Positionen achtet.“ [2]
In einer Rede die er am 29. September 2015 vor der UN-Vollversammlung zum 70. Jahrestag der Organisation, hielt, bekräftigte Putin übrigens dieses Angebot noch einmal: „Russland glaubt an das riesige Potential der UNO, das uns helfen sollte, eine globale Konfrontation zu vermeiden und zur Strategie der Kooperation überzugehen. Zusammen mit anderen Staaten werden wir konsequent auf die Stärkung der zentralen und koordinierenden Rolle der UNO hinarbeiten.“
2015, bei der 12. Waldai-Konferenz schlug Putin einen wesentlich besorgteren Ton an. Hintergrund war die Ausweitung der Konflikte von der Ukraine auf Syrien, der anhaltende Sanktionskrieg gegen Russland und die ausufernde Dämonisierung Russlands in den westlichen Medien. Unter dem Thema „Krieg und Frieden: Mensch, Staat und die Gefahr eines großen Konflikts im 21. Jahrhundert“ ging Putin die aktuellen Krisen-Schauplätze durch: Ukraine, Syrien, IS, der Sanktionskrieg. Er betonte die Legitimität des russischen Militäreinsatzes in Syrien, die im Einklang mit der Souveränität des Landes stehe, im Gegensatz zur illegitimen Intervention der USA und der von ihr geführten Koalition. Er warnte vor einer Teilung Syriens als „schlimmstem Szenario“ und wurde schließlich sehr deutlich, als er erklärte, nach der Entwicklung von Atomwaffen könne es in einem globalen Konflikt keine Sieger geben. Es liege klar auf der Hand, dass ein solcher Konflikt mit einer gegenseitigen Vernichtung zu Ende gehen würde. „In dem Versuch, eine Waffe mit immer höherer Zerstörungskraft zu entwickeln“, so Putins Fazit zum Thema der Tagung, „machte der Mensch einen groß angelegten Krieg sinnlos.“[3]
In der westlichen Berichterstattung mutierte diese Passage selbstverständlich – so muss man es leider sagen – umgehend zur Drohung.
2016: Bemerkenswerte Obertöne
Die aktuelle Rede vom Oktober 2016 unterscheidet sich von den zuletzt vorausgegangenen in bemerkenswerter Weise. Genau betrachtet zerfällt sie in drei Teile, von denen der erste und der letzte, so kann man es inzwischen schon sagen, im konventionellen Rahmen des gegenwärtigen Konfliktmanagements bleiben und deshalb hier nur kurz gestreift werden sollen.
Im ersten Teil der Rede führt Putin die bisherige Kritik an der Politik des Westens zu einer offenen Anklage gegen die von den USA betriebene Politik des Regime-Change. Die USA gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten hätten die Chance einer globalen Verständigung, welche in den späten 80ern und frühen 90ern bestanden habe, bewusst ausgeschlagen. Im Ergebnis befinde sich das „System der internationalen Beziehungen“ in einem „fiebrigen Zustand“, könne die globale Ökonomie ihre „Systemkrise“ nicht überwinden. Im Schlussteil der Rede geht es Putin um aktuelle Maßnahmen des Krisenmanegements. Er bekräftigt die bekannte Position Russlands, „dass Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen sei“, um die herum allein Stabilität auf nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden könne. Als möglichen Schritt in diese Richtung schlägt er die Entwicklung einer „Art Marshall Plan“ für die Staaten des mittleren Ostens vor, darüber hinaus auch gleich den Übergang zu Entlastungen und Aufbauhilfe für andere schwache Staaten,
Mahnungen an die „Eliten“
Zwischen der konventionellen Einleitung, in der Putin die Systemkrise konstatiert, und dem pragmatischem Schlussteil des Minimalprogramms zur Stabilisierung des Mesopotamischen Raumes, führt der Hauptteil der Rede, anknüpfend an seine Charakterisierung der globalen Lage als „fiebrige Situation, in eine ganz andere Dimension:
Die Frage stelle sich, so Putin, „was erwartet die Welt, wenn die Dinge sich in dieser Weise fortsetzen? Was für eine Welt werden wir morgen haben? Haben wir Antworten auf die Fragen, wie Stabilität, Sicherheit und eine nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten sind?“
Und er beantwortet diese Frage im nächsten Atemzug gleich selbst: „Traurig zu sagen, es gibt keinen Konsens zu diesen Fragen in der heutigen Welt. Mag sein, dass Sie in Ihren Diskussionen zu einigen allgemeinen Schlüssen gekommen sind, und ich wäre natürlich interessiert, sie zu hören. Aber es ist sehr klar, dass es einen Mangel an Strategie und Ideen für die Zukunft gibt. Das lässt ein Klima der Unsicherheit entstehen, das direkte Folgen auf die öffentliche Stimmung hat.“
Soziologische Studien rund um die Welt zeigten, so Putin, dass die Menschen in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten dazu tendierten, die Zukunft trübe und öde zu sehen. Dies sei bedauerlich. Die Zukunft verlocke sie nicht, sondern ängstige sie. Zugleich sähen sie keine realen Möglichkeiten, irgendetwas zu ändern, Einfluss zu nehmen und Politik zu gestalten. Selbst in den entwickeltsten Demokratien habe die Mehrheit der Bürger keinen wirklichen Einfluss auf die politischen Prozesse und auf die Macht. Die Menschen fühlten eine zunehmende Kluft zwischen ihren Interessen und den Vorstellungen der „Eliten“ vom „einzig richtigen Weg, einem Weg, den die Eliten selbst bestimmen.“ Ergebnis: Referenden und Wahlen brächten immer öfter Überraschungen für die Autoritäten hervor. Diese Entwicklung könne nicht einfach als „populistische“ Radikalisierung abgetan werden vielmehr gehe es hier um „gewöhnliche Menschen, normale Bürger, die ihr Vertrauen in die herrschende Klasse verlieren.“!
Es stelle sich schließlich die Frage: „Wer ist tatsächlich die Randgruppe? Die expandierende Klasse der supranationalen Oligarchie und Bürokratie, die in der Tat oft nicht gewählt ist und die nicht durch die Gesellschaft kontrolliert werden kann, oder die Mehrheit der Bürger, die einfache und klare Dinge wollen – Stabilität, freie Entwicklung ihrer Länder, Aussichten für ihr Leben und das ihrer Kinder, Bewahrung ihrer kulturellen Identität und, schließlich, Sicherheit für sich und ihre Lieben.“
Es folgen noch Ausführungen zum internationalen Terrorismus, der von einer fernen Bedrohung zu einer alltäglichen geworden sei. Man solle denken, so Putin, dass nach langen Verhandlungen nun eine gemeinsame Front gegen den Terrorismus zustande gekommen sei. Aber leider zeigten die westlichen Länder das „unerklärliche und ich würde sagen irrationale Verlangen“, immer wieder dieselben Fehler zu machen wie zuvor schon in Afghanistan, Irak, Libyen, jetzt in Syrien, zu glauben nämlich, man könne Terroristen in gemäßigte, die man für eigene Ziele benutzen könne, und radikale unterscheiden.
Aber dies, so Putin sei ein sehr gefährliches Spiel, und er wende sich noch einmal an die „Spieler“: „Die Extremisten sind in diesem Falle schlauer, cleverer, und stärker als ihr, und wenn ihr diese Spiele mit ihnen spielt, werdet ihr immer verlieren.“
Unüberhörbar schwingt hier die Warnung vor möglichen Unruhen und Revolten mit. Als Präsident Russlands, das von Revolutionen mehr als jedes andere Land geschüttelt wurde, weiß Putin, wovon er spricht.
Und dazu die USA: Koinzidenz des Unvereinbaren
Putins mahnende Worte zur Abgehobenheit der „Eliten“, zum schwindenden Vertrauen der Bevölkerungen in ihre Regierungen, zu den daraus hervorgehenden Tendenzen der Selbstorganisation kamen zu einer Zeit, in der die USA sich in einem erschreckend inhaltlosen Wahlkampf selbst zerfleischten.
Lassen wir hierzu eine Stimme aus der Zahl der besten Freunde der USA zu Wort kommen, der „Frankfurter Allgemeine Zeitung.
In einem Kommentar kurz vor der Wahl kam sie zu folgendem Fazit: „Schlammschlachten um das Weiße Haus gab es in der langen Geschichte der amerikanischen Demokratie auch früher. Doch steht zu befürchten, dass die jüngste nicht am Wahltag endet. In Amerika tobt ein neuer, ein politischer Bürgerkrieg, in dem nicht nur schwarze Bürger gegen weiße Polizisten und die Demokraten gegen die Republikaner kämpfen, sondern auch die Angehörigen einer sich um den amerikanischen Traum betrogen fühlenden Unter- und Mittelschicht gegen das politische und ökonomische `Establishment´. Dieses ist auch selbst gespalten. In ihm tritt der Isolationismus gegen den Interventionismus an und der Überrest des amerikanischen Missionsglaubens gegen ‚America First“. (…) Die Führungsmacht des demokratischen Westens (…) droht in einer Zeit an sich selbst zu scheitern, in der sie in der Weltpolitik als ein den Werten der liberalen Demokratie verpflichteter Stabilitätsanker und global agierender Ordnungsfaktor gebraucht würde wie selten zuvor.“ ‘…[4]
„Der russische Präsident“, heißt es dann zu Begründung der aus dem Zustand der USA resultierenden Gefahr, „betreibt eine aggressive, remilitarisierte Außenpolitik unter Missachtung internationaler Regeln und Prinzipien, um sein Regime zu sichern und um von den Missständen im Inland abzulenken. Er nutzt für seine Zwecke nun auch das Machtvakuum und das Chaos, das Washington nach dem Abzug aus dem Irak im Nahen Osten hinterließ.“ Auch China wolle Supermacht werden. Die Türkei drohe zu einer islamistischen Präsidialdiktatur zu werden. Die EU stecke in der schlimmsten Krise ihrer Geschichte. Kurz: „Die freie Welt wird von Lähmung und Spaltung und Zerfall geplagt und nicht nur in Moskau, sondern auch in den westlichen Völkern finden manche, das geschehe ihr recht.“
Führungswechsel?
Was, fragt man sich, hat dies alles zu bedeuten? Was kann aus dem Zusammentreffen dieser von Putin in Waldai beschworenen und von den USA in ihrem irren Wahlkampf vorgeführten großen Leere bei den „Eliten“ und der wachsenden Unzufriedenheit der „Menschen“ entstehen? Ist das amerikanische Zeitalter mit einem Donald Trump als zukünftigem Präsidenten nun an ihren Tiefpunkt gelangt? Wird Russland neue globale Führungsmacht, die zusammen mit Europa ein eurasisches Zeitalter eröffnet? Steht China vor der Tür? Oder gar die Türkei als Wiedergeburt osmanischer Größe?
Mitnichten. Spekulationen dieser Art verbieten sich. Sicher ist allein, dass die Grundfragen der gegenwärtigen Übergangsepoche die herrschenden politischen Mächte an eine Grenze führen, die zu überschreiten, nicht nur neue Formen der Politik erfordert, sondern auch neue Orientierungen nötig macht, über die heute in keinem der herrschenden Länder, genauer bei keiner ihrer „Eliten“ eine Vorstellung besteht.
Deutlich tritt die Frage zutage, auf die es bisher keine Antwort gibt: Wie will, wie kann die Menscheit leben in einer Welt, die durch profitorientierte Automation und bei gleichzeitigem Wachstum der Weltbevölkerung immer mehr Menschen hervorbringt, die als „Überflüssige“ an den Rand der Gesellschaften gedrängt werden?
Angesichts dieser Lage ist Putins Stimme zurzeit die vernünftigste, wenn er zur Einhaltung des geltenden Rahmens internationaler Beziehungen und zu „wahrer Führungskraft“ aufruft, die darin bestehe, konkrete Wege der Friedenssicherung aufzuzeigen. Was eine von Trump angeführte US-Regierung bringt, wird sich bald zeigen.
Eine nachhaltige Lösung liegt allerdings auch in Putins Notruf nicht. Bloßes Krisenmanagement muss letztlich in Stagnation enden, solange die Perspektiven nicht über die „Sicherung des Wachstums“ hinausweisen – denn das heute herrschende Verständnis von Wachstum ist ja gerade die Ursache der Konflikte.
Bleibt also nur die Hoffnung, dass die von Putin genannten weltweiten Impulse aus den unruhig werden Bevölkerungen, selbst die Dinge in die Hand nehmen zu wollen, die „Eliten“ zwingen neue Wege zu gehen – oder selber zu gehen. Ob das auch seine eigene Perspektive ist, ließ Putin in seiner Rede offen.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
Erscheint demnächst:
Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, hrsg. vom Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V., Dezember 2016,
Bestellungen über www.kai-ehlers.de
[1] Dieser Absatz wie alle folgenden Passagen der Waldai-rede Putins werden zitiert nach der englischen Übersetzung aus sott.net: https://www.sott.net/article/ 332371-Putin-2016-speech-at- Valdai-Discussion-Club
[2] Siehe dazu auch: Kai Ehlers, “Wladimir Putins Botschaft an den Westen – ein Zeitfenster für Alternativen“, nachzulesen u.a. auf www.kai-ehlers.de
[4] Dieses und die folgenden drei Zitate aus „Selbstmörderische Supermacht“, Kommentar in der FAZ vom 5.11.2016
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