In den europäischen Massenmedien erfährt man nur wenig darüber, was die Bürgerinnen und Bürger über den neuen US-Präsidenten denken. Seit dem Bekanntwerden der Wahlergebnisse (für den Präsidenten und große Teile des Kongresses) kommen vor allem Politiker, sonstige «Eliten» und «Intellektuelle» sowie die Journalisten selbst zu Wort.
Aber auch dann, wenn man direkt von Bürger zu Bürger spricht, bekommt man oft zuerst nur das zu hören, was man auch schon in den Medien gelesen hat. Etwas jedoch ist interessant: Den Medien, die Leserkommentare im Anschluss an ihre Artikel veröffentlichen, kann man ein anderes Bild entnehmen. Zwei Beispiele aus der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 10. November. Ein Leser schrieb mit Blick auf viele Politiker- und Medienanalysen zum Wahlergebnis: «Die Dummen haben ihn gewählt, ist so ein Analyseergebnis. Aber vielleicht ist es ja auch das Gefühl vieler Bürger für die Verlogenheit und die Bevormundung durch die Medien und die Politiker, die der veröffentlichten, nicht der öffentlichen Meinung nachlaufen.» Ein anderer Leser schrieb: «Es ist wohl in die deutschen Gene gegeben, sich stets über andere zu erheben, sei es in Gestalt des Herrenmenschen oder des von sich selbst überwältigten Gutmenschen. Die USA haben gewählt, das Resultat mag unangenehm oder unbequem erscheinen – wir haben es zu akzeptieren. Wie der neue Präsident wohl noch sehr viele Dinge lernen muss, so haben deutsche und europäische Politiker sich an die neue Administration zu gewöhnen. Dass dieser Prozess eröffnet wird mit flegelhaften Urteilen etwa des SPD-Vorsitzenden, mit linker und grüner Arroganz oder mit Merkelschen Belehrungen über die gemeinsamen Werte, verheißt nichts Gutes.»
Keine diplomatische Mäßigung mehr
Der öffentliche Umgang in den internationalen Beziehungen hat sich in den vergangenen 25 Jahren gewandelt. Das, was einmal als völkerrechtliche Richtschnur und diplomatische Gepflogenheit galt und so auch der Uno-Charta entspricht, nämlich die verbale Mäßigung bei offiziellen Äußerungen zu den inneren Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates – wozu Wahlen ganz entscheidend gehören –, ist in den Augen des Großteils der europäischen «Eliten» nur noch Makulatur. Das hat außenpolitische, im Falle des neuen US-Präsidenten aber wohl noch mehr innenpolitische Gründe. Denn Schlagzeilen wie «Trump ist überall» («Neue Zürcher Zeitung» vom 12./13. November) zeigen, worum es geht. Die derzeit noch tonangebenden «Eliten», auch «Establishment» genannt, wollen ihre Macht behalten und sehen sich – nicht zu Unrecht – von einer zunehmend großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in Frage gestellt.
Modewort «Populist» könnte aus George Orwells Roman «1984» stammen
Dabei hat ein Wort Konjunktur, dass nirgendwo solide definiert ist: Populist. So wie Donald Trump ein «Populist» sein soll, so soll es auch in Europa zahlreiche solche «Populisten» geben. Manchmal, so in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 10. November, ist auch von «Demagogen» (von griechisch: demagogos) die Rede, und in der Tat haben sich die Stimmbürger Athens während des Peloponnesischen Krieges von rhetorisch versierten Rednern unsinnigerweise dazu verleiten lassen, katastrophalen Kriegszügen ihre Zustimmung zu geben.
Misstrauisch macht einen dieser Wortgebrauch allerdings beim Blick auf die tatsächliche Situation. Denn es sind ja nicht die heutigen «Populisten», die zum Krieg aufrufen und die Kriege vorbereiten und führen. Es ist das «Establishment» – und leider muss man hinzufügen, dass dieses «Establishment», vor allem das der «westlichen Wertegemeinschaft», den Planeten Erde auch in anderer Hinsicht in eine katastrophale Sackgasse geführt hat: politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell.
Welche Maßstäbe sollen gelten?
Also ist es erlaubt, eine Frage zu stellen: Sind diejenigen, die das derzeitige «Establishment» zum Beispiel an den Maßstäben des Naturrechts, der Menschenrechte und des Völkerrechts messen, «Populisten» und «Demagogen»? Oder ist nicht tatsächlich etwas dran an der These, dass das «Establishment» jeden Sinn für die Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mass, Weisheit und Tapferkeit verloren hat und stattdessen wie machiavellistische «Hasardeure» denkt und handelt. Ein Hasardeur, so ist zu lesen, «ist ein Mensch, der unkalkulierbare hohe Risiken eingeht und dabei seine Sicherheit weniger eigener Einsicht und eigenem Können als einem wohl gesonnenen Schicksal überantwortet. Er stellt sachliche Analysen der realen Gefahrenlage und Überlegungen zu den Folgen seines Tuns hinten an und spielt damit leichtsinnig mit seinem und anderer Menschen Leben beziehungsweise Hab und Gut.»
Höchste Zeit, sich auf den Rahmen europäischer Politik zu besinnen
Donald Trumps Wahlsieg ist in der Tat ein weiterer Anlass zur Besinnung, nicht für Polemik gegen den Wahlsieger und seine Wähler. Besinnung darauf, wie die Staaten Europas ihre künftige Politik ausformen wollen, welche Wirtschafts- und Finanzordnung sie anstreben, wie das kulturelle Leben aussehen soll: kurzum: wie wir unser Zusammenleben künftig gestalten wollen.
Donald Trumps Wahlsieg ist in der Tat ein weiterer Anlass zur Besinnung, nicht für Polemik gegen den Wahlsieger und seine Wähler. Besinnung darauf, wie die Staaten Europas ihre künftige Politik ausformen wollen, welche Wirtschafts- und Finanzordnung sie anstreben, wie das kulturelle Leben aussehen soll: kurzum: wie wir unser Zusammenleben künftig gestalten wollen.
Eine solche Besinnung sollte mindestens beinhalten, wie in den künftigen internationalen Beziehungen zu den Grundlagen des Völkerrechts zurückgekehrt werden kann, das insbesondere durch die Beteiligung von Nato-Staaten an den völkerrechtswidrigen Kriegen gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan, gegen Irak, gegen Libyen, gegen Syrien massiv gebrochen wurde. Der Friede zwischen den Völkern und Staaten muss wieder das oberste Gebot werden. Der Krieg ist wieder zu ächten. Die penetrante Dämonisierung der russischen Politik und die Propaganda gegen dieses Land hat in einer Welt, die vor der Notwendigkeit einer weltweiten Zusammenarbeit gleichberechtigter souveräner Staaten steht, nichts mehr zu suchen; wie eine Wirtschafts- und Finanzordnung aufzubauen ist, die dem Gemeinwohl der Volkswirtschaften und der Weltwirtschaft dient und Wege aus der krassen sozialen Ungerechtigkeit innerhalb der Staaten und noch mehr in der Welt bahnt. Mit Sicherheit muss dabei die Ideologie des «Freihandels» und der «Globalisierung» auf den Prüfstand. Eigentum und auch Finanztransaktionen müssen dem Wohle der Allgemeinheit verpflichtet sein;
wie die Demokratie so gestärkt werden kann, dass die Bürgerinnen und Bürger über politische Fragen ihres Landes immer dann selbst und direkt entscheiden können, wenn sie dies wollen;
wie unsere Familien die notwendige Unterstützung dabei erhalten, dass sie in Erziehung und Zusammenleben zu wirklichen Keimzellen unserer Gesellschaft werden;
wie unsere Schulen und Hochschulen so arbeiten können, dass wissenschaftlich, humanistisch und sozial gebildete junge Menschen die Zukunft unserer Gesellschaften und Staaten mit Entschlossenheit und Zuversicht gestalten.
wie die Demokratie so gestärkt werden kann, dass die Bürgerinnen und Bürger über politische Fragen ihres Landes immer dann selbst und direkt entscheiden können, wenn sie dies wollen;
wie unsere Familien die notwendige Unterstützung dabei erhalten, dass sie in Erziehung und Zusammenleben zu wirklichen Keimzellen unserer Gesellschaft werden;
wie unsere Schulen und Hochschulen so arbeiten können, dass wissenschaftlich, humanistisch und sozial gebildete junge Menschen die Zukunft unserer Gesellschaften und Staaten mit Entschlossenheit und Zuversicht gestalten.
Ein eigenständiges Europa – aber nicht als US-Ersatz
Nach den US-Wahlen sprachen verschiedene europäische Politiker davon, Europa müsse nun eigenständiger werden. Aber sie meinten damit, die finsteren Seiten der bisherigen US-amerikanischen Politik künftig Europa übertragen zu wollen, zum Beispiel mit massiven Aufrüstungsprogrammen und Weltmachtansprüchen. Besonders deutsche Regierungsvertreter tun sich mit solchen Überlegungen hervor und bemänteln dies mit der Formel, man müsse mehr «Verantwortung» in der Welt übernehmen. Diese Art von «Besinnung» kann Europa nicht gebrauchen. Schon vor einigen Jahren, kurze Zeit nach dem Amtsantritt von Angela Merkel, zeichnete sich ab, dass es mächtige interessierte Kreise im Westen gibt, die den Niedergang des US-amerikanischen Imperiums voraussehen, die nach neuen Staaten und Politikern suchen, die in die Fußstapfen der US-amerikanischen Machtpolitik treten könnten, und dabei auf Deutschland setzen. Gott bewahre uns!
Trotzdem ist es erstrebenswert, wenn sich Europa von den USA emanzipieren würde, aber nur, wenn die Grundlagen dafür stimmen. Nicht gegen die USA und auch nicht gegen sonst ein Volk oder einen Staat. Aber sowohl für das Wohl des eigenen Landes als auch für das Wohl der Welt insgesamt. Dafür gilt es sich einzusetzen.
* Karl-Jürgen Müller unterrichtet Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde an einer deutschen Berufsschule. quelle: https://www.seniora.org/de/973
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