Friday, February 13, 2015

Plädoyer für eine revolutionäre Moral von Susann Witt-Stahl


“Solidarität des Lebens*” 

Der Mensch heute lebt im Bann einer «verkehrten Metaphysik». Nicht für begangene Grausamkeiten, sondern für die Weigerung mitzumachen, muss er sich rechtfertigen. Es ist höchste Zeit, sich des mimetischen Impulses, der uns innewohnt und unser Mitgefühl auslöst, bewusst zu werden. Ohne eine Moral, die das Leiden und Mitleiden beredt werden lässt, ist der Kampf für eine freie Gesellschaft nicht zu gewinnen.
Ein Hirschkälbchen verliert in einer Sturmflut den Kontakt zu seiner Familie. Es treibt hilflos in einem reissenden Fluss und droht jeden Moment zu ertrinken. Belal beobachtet die sich anbahnende Tiertragödie. Der Junge stürzt sich ohne Zögern in die Wassermassen, schwimmt zu dem Hirschbaby, packt es und geht unter. Nur die Hand, in der er das paralysierte kleine Wesen hält, ragt noch aus den Fluten. Nach einiger Zeit taucht Belal wieder auf und kann sich und seinen Schützling schliesslich ans Ufer retten. Dort werden die beiden mit lautem Jubel von Menschen aus der Umgebung empfangen. Der kleine Hirsch wird zurück zu seinen Eltern gebracht. Ein Happy End wie aus einer Disney-Filmproduktion.
Derartige Szenen (diese hat sich in Noakhali, im Südosten von Bangladesch, abgespielt) erscheinen vor dem Hintergrund des millionenfachen Gemetzels in den Schlachthöfen und Laboratorien, das im fortgeschrittenen Kapitalismus tagtäglich routinemässig vollzogen wird, nicht nur unwirklich – sie muten geradezu absurd an. Besonders an Orten, wo «die Leute» gewöhnlich «ganz andere Probleme» haben, als sich um Tiere zu sorgen, so das gängige Klischee über die BewohnerInnen der Armenhäuser dieser Welt. Doch Tag für Tag zeigen Menschen überall, bis hinein in die dunkelsten Winkel der Zivilisation, immer wieder spontan Mitgefühl gegenüber Tieren in Not und helfen ihnen – uneigennützig. Dieser Widerspruch zum rücksichtslosen Bestehenden verdient eine nähere Betrachtung.
Der Krieg um das Mitleid In dem Aufsatz Das Tier, welch ein Wort! von Jacques Derrida finden sich einige bemerkenswerte Sätze: «Zwei Jahrhunderte, auf die ich mich beziehe, um vor ihrem Hintergrund unsere eigene Gegenwart zu situieren, sind zwei Jahrhunderte eines ungleichen Kampfes, eines Krieges, dessen Ungleichgewicht sich eines Tages verlagern könnte: zwischen jenen, die nicht nur bloss dem tierischen Leben, sondern noch jenem Gefühl des Mitleides Gewalt antun, und jenen anderen, die sich auf das unwiderlegliche Zeugnis jenes Mitgefühls berufen. Es ist ein Krieg, der um das Mitleid entbrannt ist. Dieser Krieg hat ohne Zweifel kein Alter, aber, und so lautet meine Hypothese, er ist in eine kritische Phase eingetreten und wir mit ihm.»
Die von Derrida genannten «zwei Jahrhunderte» sind die Zeit, die Menschen und Tiere bereits unter der Knute des Kapitalismus leben und leiden. ApologetInnen der marxistischen Weltanschauung, der gemäss die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen und permanenter Klassenkämpfe ist, mag Derridas These befremden. Betrachtet man aber die DNA des Mitleids, dann findet man einen historisch-materialistischen Wahrheitskern in seiner Aussage.
«Weh spricht: Vergeh!» Der Philosoph Mirko Wischke reflektiert im Rahmen seiner Überlegungen zu Theodor W. Adornos «Moral der Betroffenheit» in Anlehnung an ein Diktum des Kritischen Theoretikers eine «Solidarität mit den quälbaren Körpern», der ein «mimetischer Impuls» innewohne. Der mimetische Impuls ist ein Trieb, eine motorische Reaktionsform, die einem körperlichen Spannungszustand entstammt, also eine an das Leibliche rückgebundene Gefühlsmotivation. Er «wird in den Momenten sichtbar, in denen das Subjekt sich ‹in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung anvertraut› [Adorno]: im solidarischen Mitgefühl, wie es etwa ein Kind beim Anblick des stummen Leidens von Tieren empfindet; im einfühlenden Nachempfinden von Schmerzen», so Wischke.
Der mimetische Impuls ist somit auch eine Keimform des Sozialen, der gegenseitigen Hilfe und der Fürsorge (u.a. der Brutpflege). Ohne das gegenseitige Einfühlen und Nachahmen hätte sich gesellschaftliche Arbeit, durch die der Mensch sich selbst erschafft und humanisiert, nicht entwickeln können. Der mimetische Impuls ist Bedingung der Möglichkeit einer noch in weiter Ferne liegenden Gesellschaft der «Solidarität des Lebens überhaupt» (Max Horkheimer).
Der Drang, Leiden zu beseitigen, ist bereits in der Materie des quälbaren Körpers angelegt. «Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem», schrieb Adorno in Negative Dialektik. «Alles Geistige ist modifizierter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloss ist.» Jede Schmerzerfahrung «meldet der Erkenntnis an, dass Leiden nicht sein, dass es anders werden solle. ‹Weh spricht: Vergeh!›» – sie ist die Schnittstelle zwischen dem Materialistischen und dem Kritischen, das nach einer anderen gesellschaftlichen Praxis verlangt.
Die Dialektik von mimetischem Impuls und Selbsterhaltungstrieb Dem mimetischen Impuls steht der Selbsterhaltungstrieb gegenüber. Dieser ist wie jener ein Naturmoment und unabdingbare Voraussetzung für die Zivilisation des Menschen, der sich mit Hilfe seines Selbstbehauptungstriebes von der Natur gelöst, sich ihr gegenüber behauptet, sie nach und nach beherrscht, schliesslich vollständig unterjocht hat. Dafür musste er im Laufe der Evolution seine mimetischen Impulse, mit denen er sich der Natur anschmiegt und sich ihr anpasst, brutal unterdrücken. Dieser Vorgang geschieht blind. Dem Menschen ist er nicht bewusst. Er tut es permanent und vergisst immer mehr, dass er selbst Natur und auch ein Tier ist. Dieser Vorgang ist nicht nur ein phylogenetischer. Er wie- derholt sich in der individuellen Entwicklung jedes Menschen.
In der Moderne findet der Selbsterhaltungstrieb seine gesellschaftliche Übersetzung in instru- mentelle Vernunft: Eine noch nicht zur Vernunft gekommene Vernunft, deren einziger Betriebszweck Zweckerfüllung ist – ein Organ, das ausschliesslich auf Beherrschen und nicht auf Verstehen programmiert ist, vorwiegend nur eine Ordnung der Dinge kennt und sie ideologisch als alle Vorgänge in Natur und Gesellschaft notwendig allein bestimmende begreift: Das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens oder des bellum omnium contra omnes (der Krieg aller gegen alle), der subkutane kategorische Imperativ des Kapitalismus.
Aber nicht nur der Selbsterhaltungstrieb sinkt immer wieder zurück in den Abgrund blinder Natur. Unter der Fuchtel einer im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit verharrenden Ökonomie (die mit dem Neoliberalismus totalitäre Züge annimmt und kein Aussen und kein Anderes mehr zulässt) erfährt der mimetische Impuls nur schwer Entfaltung zu vernünftigen sozialen und moralischen Verhaltensweisen, sondern regressive Momente brechen sich Bahn: «Wer jemals eine nationalsozialistische Versammlung in Deutschland besucht hat», schrieb Max Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft, «weiss, dass die Redner und die Zuhörer ihr Hauptvergnügen daran hatten, gesellschaftlich unterdrückte mimetische Triebe zu betätigen, wenn auch nur, indem sie ‹rassische Feinde› lächerlich machten und angriffen, die angeklagt waren, in unverschämter Weise ihre eigenen mimetischen Gewohnheiten zur Schau zu stellen».
Selbsterhaltungstrieb und mimetischer Impuls sind also dialektisch. Ihre Unterdrückung und Leugnung halten die Hintertür zur Barbarei unweigerlich einen Spalt offen. Als bewusste und vom Subjekt eingedachte, nicht mehr blinde Naturmomente sind sie ein Treibstoff für die Lokomotive der Geschichte.
Mitleid allein ist zu wenig
Als Vorform der Empathie, die sich in der Negativität von Herrschaft, unter der die überwältigende Mehrheit der Menschen und die Tiere zu leiden haben, als Mitleid äussert, kann sich der mimetische Impuls zum Antidot gegen Gewalt und Grausamkeit entwickeln. Der bedeutendste Mitleidsphilosoph Arthur Schopenhauer hat das Mitleid als intuitive Erkenntnis fremden Leidens und höchste Form der Aufhebung der Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen definiert, die das Ego des blinden Selbsterhaltungstriebs in die Schranken weisen.
Im Gegensatz zu den bürgerlichen PrinzipienphilosophInnen, die unter Missachtung der hierarchischen Klassenstruktur der Gesellschaft starre Regelwerke mit positiven Verhaltensnormen vorlegten, die für alle gleich gelten, obwohl nicht alle unter gleichen ökonomischen und sozialen Bedingungen leben, bestimmte die Kritische Theorie moralisches Handeln nur negativ als ein Handeln, das alles unterlässt, was Leiden – im Sinne von verhinderbarem Unrecht – verursachen könnte.
Mitleid allein verändert nichts. Nietzsche hatte nicht Unrecht, als er es als «Sklavenmoral» be- zeichnete, die das Elend nur verdoppelt und keinen aktiven und offensiven Widerstand leistet.
Ausserdem kann Mitleid sehr ungerecht sein, den UnterdrückerInnen und AusbeuterInnen statt den Unterdrückten und Ausgebeuteten zukommen – vor allem in der modernen Mediengesellschaft, in der die Armen, Schwachen und Geknechteten stets im Dunkeln und die Mächtigen, Reichen und Schönen stets im Rampenlicht stehen. Der Kapitalismus hat mit der Kulturindustrie eine ausgeklügelte Apparatur der Massenmanipulation hervorgebracht, die unsere Gefühle schamlos ausbeutet, unter den herrschenden Bedingungen nicht auslebbare Liebe, Schmerz und Trauer der Menschen kanalisiert, ihnen beim verordneten Konsum von standardisiertem Kitsch generös die Lizenz zum Weinen gibt, aber ihr Elend und seine wahren Ursachen tröstend verhüllt. Niemand wusste das besser als die Kritischen Theoretiker, die nicht Marxisten gewesen wären, wenn sie sich blind einer Haltung anvertrauen hätten, die von inhumanen Verhältnissen gezeitigt wird. Das Mitleid «bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert»( Adorno).
Der Marxismus aber zielt auf Verhältnisse, die kein gesellschaftliches Un- recht produzieren, das Mitleid erfordert.
Die Entfaltung einer wahrhaft revolutionären Moral, die dem mimetischen Impuls entspringt, uns zum Mitleid mit denen bewegt, die Leiden ausgesetzt sind, und uns antreibt, das Leiden zu beseitigen, muss ebenso mit einer fundamentalen Gesellschafts- und Ideologiekritik wie mit dem Aufbau politische Schlagkraft entwickelnder Organisationsstrukturen einhergehen. Ohne das Korsett kritischer Theorie bleibt das Mitgefühl halt und richtungslos – ohne wirksame widerständische Praxis bleibt es zahnlos.
Die Klassenherrschaft, die das Leiden produziert, muss konsequent angegriffen werden. Denn, wie Engels es formulierte, eine «über den Klassengegensätzen und über der Erinnerung an sie stehende, wirklich menschliche Moral wird erst möglich auf einer Gesellschaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht nur überwunden, sondern auch für die Praxis des Lebens vergessen hat».
Die Diktatur des Vulgärdarwinismus Das Problem heute – in blinder Naturbeherrschung stagnierende und damit vorerst misslungene Zivilisation – ist, dass deren regressiven Momente zur Ideologie erhoben werden und der «individuelle Selbsterhaltungstrieb» als das «allein Entscheidende im Menschen» begriffen und zur nahezu allein herrschenden Moral erhoben wird, wie der Ökonom und Kritische Theoretiker Friedrich Pollock beklagte.
Die Gesellschaft im fortgeschrittenen Kapitalismus hat sich offenbar so weit von der Agenda der Emanzipation und Aufklärung entfernt, «dass man für das eigentlich Menschliche, das heisst, alles, was sich erst unter besseren Bedingungen entwickeln kann», einer Begründung und Rechtfertigung bedarf.
Das moralische (Mit-)Gefühl wird anästhesiert und kaum mehr in Solidarität übersetzt. Herausgebildet hat sich ein omnipräsenter Vulgärdarwinismus, der uns die Regeln des Zu- sammenlebens diktiert. Er strebt nach der Verabschiedung von jeder Hoffnung auf eine freie Vernunft und nach vollständiger Anpassung an das, was die instrumentelle Vernunft als «natürliche
Hierarchie» anerkennt (ein System, dessen Prinzipien sich nicht selten zum Faschismus verdichten). Camoufliert mit dem Begriff der «freien Konkurrenz» und des «freien Marktes» zementiert er die Klassenstruktur der Gesellschaft, segnet die Drangsalierungen der Lohnarbeit, die imperialistischen Kriege und Raub und Plünderungsfeldzüge in den letzten natürlichen Lebensräumen. Vulgärdar- winismus steckt in der Metapher von dem «Boot», das angeblich «voll» ist, mit der eine mörderische Realität gerechtfertigt wird, die jährlich Tausende im Mittelmeer ertrinken lässt. Er steckt in der Dämonisierung jeglichen Kollektivs und der Solidargemeinschaft, hinter der Lobpreisung des oftmals als «Individualismus» verklärten Egoismus und der Verkümmerung des Menschen zur Geldmonade.
Der Mensch, der wir sein könnten Im Bann dessen, was Friedrich Pollock «verkehrte Meta- physik» nannte, die den kapitalistischen Gesellschaftsbau wie ein Nebelschleier umwölkt und «voraussetzt, dass die bürgerliche Welt, in der jeder nur für sich sorgen kann, die natürliche ist, und dass deshalb jedes andere Verhalten einer Begründung bedarf», wird die Sorge um die Alten, Kranken und Schwachen als «falsche Sentimentalität» diskreditiert. Geradezu des Hochverrats an der Zivilisation der verwalteten Welt wird angeklagt, wer Tieren, die in den Schlachtstrassen sogar noch in langen Schlangen anstehen müssen, um einen qualvollen Tod zu bekommen, Mitgefühl entgegenbringt. «Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten» (Adorno). Gleiches gilt für das Mitleid.
Daher können die ProfiteurInnen der Unrechtsverhältnisse und deren verblendete TellerleckerInnen auch nur verächtlich mit dem Kopf schütteln über Belal – den «dummen Jungen» aus Bangladesch, der sogar sein eigenes Leben einsetzte, um ein Hirschkälbchen aus den Fluten zu retten. All jene, die sich nicht in kaltem Zynismus üben, noch nicht in der eigenen bürgerlichen Kälte erstarrt sind, aber auch nicht ausbrechen wollen, begnügen sich damit, das «wundersame Kind» nicht ohne Sympathie zu bestaunen; sie begegnen ihm wie der «dritten Art» – dem ganz Anderen. Revolutionäre und Revolutionärinnen hingegen fühlen sich ihm verbunden. Sie begreifen den Impuls, dem er folgte, als emotionalen Zündstoff für die Sprengung des Klassengesellschaftsbaus, verknüpfen ihn mit antikapitalistischer Politik auf Basis des Historischen Materialismus und lassen sie in einer Solidarität mit den quälbaren Körpern wirkmächtig werden. Sie wissen, Belal ist we- sentlich einfach nur der Mensch, der wir alle sein könnten in einer Gesellschaft, deren Erschaffung wir nicht mehr aufschieben dürfen. Derrida hatte recht: Der Krieg um das Mitleid ist in eine kritische Phase eingetreten und wir mit ihm.

Susann Witt-Stahl ist freie Journalistin und Autorin. Sie berichtet für Tageszeitungen und Magazine u.a. über internationale Krisen, beispielsweise aus dem Nahen Osten und der Ukraine.

* AUS MAX HORKHEIMER: MATERIALISMUS UND MORAL
«Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teil der Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fort- schritt in der Verwirklichung jener wird auch den Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauerschen Philosophie, dass sie die Einheit von uns und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die grösseren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.»

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