Thursday, July 31, 2014

Jürgen Jung: "Im Durchschnitt wird alle drei Tage ein palästinensisches Kind von israelischen Sicherheitskräften oder fanatischen Siedlern inhaftiert oder ermordet.“ Was hat Kritik daran mit Antisemitismus zu tun?

Liebe Freunde,
im Anhang mein erfreulicherweise heute in der SZ veröffentlichter Leserbrief , der allerdings um die gelb markierten Stellen gekürzt, also abgeschwächt wurde - um Israel zu schonen, wie es scheint. Nun ja, die Kernbotschaft kommt immerhin rüber.
Doppelsendungen bitte ich zu entschuldigen!
Gruß
Jürgen
PS. Ich häng auch noch den meiner Ansicht nach besten Artikel an, der bisher in der SZ  zur angeblichen "Explosion des Antisemitismus" hierzulande erschienen ist.

Leserbrief zu
Wer Judenhass sät, wird Islamhass ernten“ (26. 7. 14, S. 4)
(Der Brief ist am 31. 7. veröffentlicht worden, allerdings um die gelb markierten Stellen gekürzt)
Das Kernproblem vieler Stellungnahmen zum Palästina-Konflikt ist die infame Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitimus. Der eine ist die Kritik einer besonders aggressiven Form des Nationalismus (F. Mitterand: „Nationalismus – das ist Krieg!“), der andere ein ursprünglich christlich-europäischer Rassismus. Man würde gern wissen, wie Herr Drobinski die Äußerung des gerade im Establishment hochgeschätzten (Juden!) Alfred Grosser erklären will: „Die Politik Israels fördert den Antisemitismus.“ Oder des (jüdischen) Psychologie-Professors Rolf Verleger, der verzweifelt „dem durch Israels Politik wachsenden Groll gegen Juden entgegenzuwirken“ sich bemüht. Oder des mittlerweile 90-jährigen Doyens der israelischen Friedensbewegung, Uri Avnery: „Der Staat Israel verursacht eine Renaissance des Antisemitismus auf der ganzen Welt und bedroht Juden überall.“
Entrüstet beklagt Herr Drobinski, daß mit der Aussage „ISRAEL – KINDERMÖDER“ die „Legende von den Juden als Ritualmörder neu auf Deutschlands Straßen“ erklinge. Herrn Drobinski scheint entgangen zu sein, was die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem bereits vor der gegenwärtigen Eskalation dokumentiert hat: „Seit dem Jahr 2000 sind 1518 palästinensische Kinder getötet worden. (Diese Zahl dürfte mittlerweile auf ca. 1800 gestiegen sein!). Im Durchschnitt wird alle drei Tage ein palästinensisches Kind von israelischen Sicherheitskräften oder fanatischen Siedlern inhaftiert oder ermordet.“ Insofern ist die Aussage: „ISRAEL – KINDERMÖDER“ keineswegs Ausdruck von Antisemitismus, sondern sie beruht auf konkreten Fakten und beschreibt des Verhaltens eines Staates. Was hat das mit Antisemitismus zu tun?
Diese fehlende Differenzierung führt dann konsequent zu der Behauptung, daß der Al-Quds-Tag zur „Vernichtung Israels“ aufrufe. Dem Autor scheint auch entgangen zu sein, daß es bei diesem Tag immer nur um die Beseitigung des „Besatzungsregimes in Jerusalem“ geht -immerhin Forderung des Völkerrechts – und eben nicht um die „Zerstörung Israels“.
Kaum wird die Kritik an Israel lauter – kein Wunder angesichts des gegenwärtigen Massakers - wird die Antisemitismus-Keule geschwungen, und schon geht’s nicht mehr um die völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung eines ganzen Volkes, um die durch nichts zu rechtfertigende staatsterroristische Verwüstung eines ganzen Landstrichs, sondern - um Judenhass. Ein allzu durchschaubares und peinliches Ablenkungsmanöver.
Jürgen Jung
Bachgrund 5
85276 Pfaffenhofen
T. 08441860855
H. 01792950442

Das Vexierbild der Bedrohung

Die Gewalt des Staates Israel soll man nicht schönreden

Von Detlef Esslinger

Manchmal trifft ein Redner den wunden Punkt, ohne es zu merken. Solch einen Moment gab es soeben in München. Die Israelitische Kultusgemeinde hatte zu einer Kundgebung gegen Antisemitismus aufgerufen, und ein Weihbischof sagte, er stehe „hier in Vertretung für die Katholiken in unserem Land“. Genau das empfanden die Veranstalter als den Kern des Prob-lems: dass all die Katholiken nicht selber kamen, sondern sich gerne vertreten ließen. Wie kann das sein? Viele Juden erleben die „kummervollste Zeit seit 1945“, wie ihre Repräsen-tantin Charlotte Knobloch sagt. Trotzdem gibt es kaum Solidaritätskundgebungen; und zu der in München kommen bloß ein paar Hundert Leute, die wenigsten sind Nichtjuden.

Ein Grund ist, dass Juden und Nichtjuden die Bedrohung äußerst unterschiedlich wahrneh-men. Juden, deutsche zumal, empfinden es als Angriff auf ihre Existenz, wenn in Folge des Gaza-Kriegs erbärmlichste antisemitische Parolen auf den Straßen gerufen werden; zumal die Polizei dies anfangs zuließ. Nichtjuden wiederum mögen für die Rufer nur Verachtung haben. Allerdings sehen sie auch jetzt in extremistischen Palästinensern sowie allen Ewiggestrigen lediglich den Haufen, den es immer geben wird – der aber diese Zivilisation nicht mehr be-drohen wird. An dieser Einschätzung ändern weder Wahlergebnisse der NPD im Osten noch der Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal etwas; letzterer gilt den meisten als einzel-nes Verbrechen, nicht jedoch als Menetekel. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) sagte auf der Münchner Kundgebung, die allergrößte Mehrheit werde mit aufstehen, „wenn es notwendig ist“. Genau so meinte er es wohl: wenn.

Es dürfte aber noch einen zweiten Grund geben, warum diese Mehrheit zu Hause bleibt. Die Frage drängt sich ja auf, zu welcher Art von Solidarität eigentlich aufgerufen wird. Fordert der Zentralrat der Juden, fordert die Israelitische Kultusgemeinde wirklich nur das Zusam-menstehen gegen Antisemitismus ein? Oder geht es nebenbei nicht auch darum, Solidarität mit der israelischen Regierung sowie die Kulisse dafür zu organisieren? Charlotte Knobloch sorgte sich bei der Kundgebung ja nicht allein „um die jüdische Zukunft in unserer deutschen Heimat“. Sondern sie sagte auch: „Wir unterstützen jenes Land (Israel, d.Red.), das stellver-tretend für die freie Welt deren Werte gegen den barbarischen Terror verteidigt.“

Wer mag solcher Einäugigkeit Beifall klatschen? Im Gaza-Konflikt sind bislang 1300 Palästinenser sowie 56 Israelis gestorben; diese Verhältnisse deuten nicht darauf hin, dass Israel nur das tut, was landläufig unter „verteidigen“ verstanden wird. Seine Luftwaffe bombardiert Schulen, Wohnhäuser und das einzige Kraftwerk, seine Regierung nimmt im Westjordanland den Palästinensern fortwährend ihr Land – der Staat Israel übt physische und strukturelle Ge-walt in einem Ausmaß aus, das, aus der Ferne, nur eine Bewertung zulässt: Die Werte der freien Welt gelten ihm nur für die eigenen Bürger etwas. Charlotte Knobloch aber fällt zu der Erbarmungslosigkeit nichts ein, außer sie mit einer pauschalen Bemerkung schönzureden.

Ja, es wäre erfreulich, wenn Zehntausende zu Kundgebungen gegen Antisemitismus kämen. Sie wären kein Indiz für eine objektiv bedrohte Demokratie. Sie wären ein Ausdruck von Herzenswärme, der vielen Juden viele Ängste nehmen würde. Ins Positive gewendet: Das Beruhigende besteht darin, dass die allermeisten Bürger zu einer solchen Erhebung keinen Anlass sehen. Sie finden, die Juden gehören so selbstverständlich zum Gemeinwesen dazu, dass sie dies nicht extra betonen müssen. Erst recht nicht, wenn die Teilnahme an einer Demo wie Parteinahme für die Regierung Netanjahu aussähe. SZ, 31. 7. 2014, S. 4




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