Friday, March 11, 2016

«Vergiftung der Debattenkultur»

Ein besorgter Blick nach Deutschland

von Karl Müller
1952, nur wenige Jahre nach dem Krieg und nur ein Jahr nach seiner Arbeitsaufnahme, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht das erste Mal in seiner Geschichte eine Partei verboten: die Sozialistische Reichspartei SRP. Diese Partei sah sich selbst in der Nachfolge der NSDAP. Vier Jahre später, im Jahr 1956, folgte das bislang einzige weitere Parteiverbot, nämlich das der Kommunistischen Partei Deutschlands KPD. Das Bundesverfassungsgericht versuchte, mit beiden Verboten dem zu entsprechen, was das noch junge Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in seinen Bestimmungen über Parteien (Artikel 21 Grundgesetz) als wehrhafte Demokratie vorgab, nämlich dass «Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, […] verfassungswidrig [sind]». Und: «Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.» Insbesondere die letztgenannte Bestimmung sollte sicherstellen, dass der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit kein Mittel des Wahlkampfes und der Diffamierung unerwünschter politischer Gegner wird und dass der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eine gründliche rechtliche Prüfung vorausgeht.
Vielen ist unbekannt, wie das Bundesverfassungsgericht damals Verfassungswidrigkeit definierte und dabei insbesondere den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO), der ja im Artikel 21 genannt wird, klärte. An diese Definition kann auch heute nicht oft genug erinnert werden:
«Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmässigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmässige Bildung und Ausübung einer Opposition.» (BVerfGE 2, 1; Leitsatz 2, 12 f.)
Nichtsdestoweniger hat es in Deutschland mittlerweile überhandgenommen, unerwünschte politische Meinungen und Aktivitäten unter das Verdikt des politischen «Extremismus» und damit der Verfassungswidrigkeit zu stellen. War es während vieler Jahrzehnte während des Kalten Krieges opportun, vor allem vor dem «Linksextremismus» zu warnen und sehr viele gesellschaftskritische Regungen so zu etikettieren, so wurde dies in den ersten Jahren nach 1990, unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes und den in vielerlei Hinsicht katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Beitritts für die Menschen im Osten Deutschlands, und auch jetzt wieder seit ein paar Jahren von interessierter Seite aus gewendet: In den Jahren nach 1990 und jetzt wieder wird von der grossen Gefahr des «Rechtsextremismus» gesprochen. Und auch jetzt wieder zielt dies vor allem auf die Bürger im Osten Deutschlands.
Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, stellte die Menschen in Ostdeutschland erneut unter einen Generalverdacht. Er hatte sich geäussert, nachdem in einer ostdeutschen Stadt die Insassen eines Busses von rund 100 Menschen mit dem laut skandierten Ruf «Wir sind das Volk» am Aussteigen vor einer Flüchtlingsunterkunft gehindert werden sollten und nachdem in einer anderen ostdeutschen Stadt eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Brand gesetzt worden war. Thierse wusste das Geschehen sofort einzuordnen und sagte, die Menschen im Osten seien «empfänglicher für menschenfeindliche Botschaften» und «weniger gefestigt in [ihren] demokratischen und moralischen Überzeugungen». Das erinnert an die 90er Jahre, als Gewalttaten von Jugendlichen in Ostdeutschland mit absurden Thesen erklärt werden sollten, die vor allem eines bezweckten: die Erziehung und die Schulen der ehemaligen DDR in ein schiefes Licht zu rücken.
Wie gross der Unterschied zwischen Fremd-Etikettierung und Selbstwahrnehmung in Ostdeutschland ist, zeigt ein vor ein paar Wochen erschienenes Buch von einem Pegida-Teilnehmer (Sebastian Hennig: «Pegida. Spaziergänge über den Horizont. Eine Chronik»). Im Vorwort des Buches heisst es: «Es ist nicht zu leugnen: Die Mehrheit der Pegida-Demonstranten sind Menschen, die bereits im Herbst 1989 auf den Strassen waren. […] Der Aufbruch bei Pegida von 2014/15 ist nicht die Fortsetzung der Revolution von 1989/90. Aber es gibt Parallelen: Bei näherer Betrachtung sogar erstaunlich viele Parallelen. Es haben sich Probleme angestaut, deren ganze Dimension mit den Sprachregelungen des herrschenden politischen Systems nicht ausgesprochen werden kann. Diejenigen, die als erste die offenen Fragen in einer eigenen, volksnahen Sprache öffentlich zu artikulieren suchten, wurden von der gleichgeschalteten – oder sich so gebenden – Presse als Nazis diffamiert. Die bornierte Reaktion der Medien hat die Proteste angestachelt und somit als Mobilisierungsfaktor gewirkt. Und die Rede vom ‹Naziaufmarsch› ist auch heute ein Ausdruck der Hilflosigkeit der ­politischen Verantwortungsträger, deren eingeschliffene Denkmuster angemessene Antworten auf die neue Wirklichkeit weder kennen noch zulassen. Der erste Satz des ersten Aufrufs des Neuen Forum vom September 1989 hat heute wieder eine erstaunliche Aktualität: ‹In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört›.»
Michael Beleites, der Verfasser des Vorwortes zum Buch, war immerhin 10 Jahre lang, von 2000 bis 2010, Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Könnte es nicht sein, dass viele Menschen in Ostdeutschland ein ausgeprägteres Sensorium für Lug und Trug in der Politik und diktatorische Tendenzen haben?
Ein Parteikollege von Wolfgang Thierse, der deutsche Justizminister Heiko Maas, ging noch weiter als jener. Er rückte alle diejenigen, die an der Rechtmässigkeit der derzeitigen deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik zweifeln, in die Nähe von «geistigen Brandstiftern». Auch der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio, der ein Rechtsgutachten für die Bayerische Staatsregierung verfasst hatte, blieb da offensichtlich nicht ausgenommen, so dass selbst eine Mainstream-Zeitung wie der «Kölner Stadt-Anzeiger» am 15. Februar 2016 schrieb: «Die Vergiftung der Debattenkultur gipfelte zuletzt darin, dass Justizminister Heiko Maas (SPD) Di Fabio in die Ecke geistiger Brandstiftung rückte.» Nur kurze Aufmerksamkeit fand eine totale verbale Entgleisung des CDU-Politikers und EU-Kommissars Günther Oettinger gegenüber der Vorsitzenden der Partei Alternative für Deutschland (AfD), Frauke Petry. In normalen Zeiten müssten solche Ehrverletzungen einen Rücktritt zur Folge haben.
Aber diese «Vergiftung der Debattenkultur» ist kein Zufall. Sie zielt auf Diffamierung und eine Schwächung der Demokratie. Eine breite «verfassungsmässige Bildung und Ausübung einer Opposition» soll verhindert werden. Das Prinzip heisst: «Teile und herrsche!» Das kann nur eine Folge davon sein, dass die politische Klasse des Landes gegen die Mehrheit des Volkes regieren will und eine Politik mit dem Argument nicht mehr möglich scheint. Und das in einer Zeit tatsächlich grosser Aufgaben. In der Tat steckt die deutsche Politik schon längere Zeit in einer Vielzahl tiefer realer Krisen. Das bestätigt selbst ein aufmerksamer Blick in die Massenmedien. Diese Krisen werden allerdings nicht lösungsorientiert angegangen, sondern tatsächlich (und bewusst?) verschärft. Anstatt mit den Bürgern des Landes gemeinsam nach Lösungen zu suchen, denen die Mehrheit der Bürger dann auch Vertrauen entgegenbringen könnte, werden Ausnahmezustände konstruiert, wird von «Alternativlosigkeit» gesprochen, wird exekutiv durchregiert, wird gegen die Bürger regiert – alles sekundiert von vielen Medien, aber auch von ausserhalb des Landes mit scheinbar noblen Namen von Persönlichkeiten und internationalen Organisationen. Eines ist schon sicher: Lösungen und Ergebnisse im Sinne des Bonum commune wird es so nicht geben.
William F. Engdahl hat in seinem Buch «Mit der Ölwaffe zur Weltmacht» ein Kapitel mit «Das ‹Projekt Hitler›» überschrieben. Hier wird nachgezeichnet, wie Kreise der Finanzwelt aus den USA und Grossbritannien in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts alles daran setzten, europäische Demokratien zu schwächen und Diktatoren an die Macht zu bringen. Andere Bücher wie das des britischen Historikers Antony C. Sutton, «Wallstreet und der Aufstieg Hitlers», das 2001 erschienene Buch des Schweizer Historikers Walter Hofer und des US-amerikanischen Historikers Herbert R. Reginbogin, «Hitler, der Westen und die Schweiz 1936–1945» oder das erst vor wenigen Jahren erschienene Buch von Hermann Ploppa, «Hitlers amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus» untermauern und vertiefen die These von Engdahls Buch.
Heute muss kein neuer Hitler kommen, aber die Gefahr der Diktatur, auch die einer erneuten Diktatur in Deutschland – dieses Mal wahrscheinlich mit einer anderen weltpolitischen Stossrichtung und anderen Propagandaformeln als in den 12 Jahren zwischen 1933 und 1945 – besteht. Was sonst soll der Sinn des heraufbeschworenen Chaos’ sein? Sind es lediglich Unwissen, Ignoranz und Abgehobenheit, die der politischen Klasse in Deutschland den demokratischen Weg versperren? Oder steckt ein Plan dahinter?
Von Martin Niemöller, dem von den Nationalsozialisten verfolgten evangelischen Theologen, sind folgende Sätze überliefert: «Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.»
Haben diese Sätze in Anbetracht der «Vergiftung der Debattenkultur» und der sozialen Ausgrenzungsversuche in Deutschland heute wieder an Aktualität gewonnen?    •
QUelle:http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2393

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