Saturday, September 12, 2015

«Beim Thema Russland ist kein Unterschied zwischen EU und USA feststellbar!»

Interview mit Philippe Migault*, Fragen von Eléonore de Vulpillières, Frankreich
Le Figaro: In einem Gespräch mit dem französischsprachigen Schweizer Fernsehen RTS [Radio Télévision Suisse] vom 28. Juli prangerte Wladimir Putin den Druck der USA an und beklagte den Mangel an Unabhängigkeit der EU. Wörtlich erklärte er: «Es ist nicht im Interesse Russlands, mit anderen Ländern in Konfrontation zu sein, aber manchmal sind wir dazu gezwungen, unsere Interessen zu schützen, und wir werden zweifellos damit fortfahren.» Was denken Sie zu diesen Äusserungen? 
Philippe Migault: Zur Frage der europäischen Unabhängigkeit gegenüber den USA kann niemand sagen, Wladimir Putin sei im Unrecht. Auf Grund fehlender Mittel und in Ermangelung einer klaren und einheitlichen ­politischen Sicht der 28 Mitglieder im Bereich der Aussenpolitik richtet sich die EU auf die US-amerikanischen Positionen aus, und zwar unter dem Einfluss der stark atlantisch ausgerichteten Staaten Nordeuropas, wie Grossbritannien, die Niederlande und die skandinavischen Länder, aber auch des Ostens, wie Polen und die baltischen Staaten. Die Franzosen und die Deutschen versuchen ab und zu, einen etwas anderen Ton einzubringen. Dies taten sie mit Nachdruck im Jahr 2003, als sie sich gemeinsam mit den Russen weigerten, den amerikanischen Angriff gegen den Irak zu unterstützen. Aber diese Zeiten sind vorbei. In Paris und Berlin haben seit dem Rücktritt von Chirac und Schröder wieder die Atlantiker Rückenwind. Gewiss gab es Minsk II, aber mit welchem Resultat?
Was die Notwendigkeit von Russland betrifft, seine Interessen zu verteidigen, so ist dies selbstverständlich – das ist der Grundauftrag jedes Staatschefs, der diesen Namen verdient.
Gemäss Bruno Le Roux, Präsident der sozialistischen Fraktion der Nationalversammlung, ist die kürzlich unternommene Reise von zehn französischen Parlamentariern auf die Krim «eine Unterwürfigkeit und eine Schande für das französische Parlament». Was ist Ihre Meinung zu dieser Stellungnahme?
Mir scheint der Ausdruck «Unterwürfigkeit» unangebracht. Es finden regelmässig Reisen von Vertretern der sozialistischen Partei in Staaten statt, die weit diktatorischer regiert sind als Russland. Ich erinnere daran, dass François Hollande mehrmals in Saudi-Arabien war, sogar mit einem Säbel in der Hand, Seite an Seite mit der saudischen Königsfamilie, obwohl Enthauptungen mit einem solchen Säbel dort an der Tagesordnung sind. Ist es Unterwürfigkeit, wenn man mit Menschen diskutiert, die nicht dieselben Auffassungen vertreten wie wir? Ich glaube nicht. Wenn wir nur mit Staaten diskutieren würden, die dieselben Ansichten haben wie wir, wäre dies für unsere diplomatischen Beziehungen sehr einschränkend: dann hätten wir nämlich kaum noch jemanden zum Diskutieren. Der Begriff «Unterwürfigkeit» ist somit eher eine Übertreibung als eine realistische Analyse. Was den Begriff «Schande» betrifft, würde er besser zu den Situationen passen, in denen sich das französische Parlament mit Schande bedeckte, als es unterliess, gegen den Besuch von Staatschefs in Frankreich zu protestieren, die weit weniger respektvoll mit den Menschenrechten umgehen als Russland.
Laut Jean-Marie Le Guen [Staatssekretär für die Beziehungen zum Parlament, Anm. d. Red.] stehen diese Abgeordneten «ausserhalb des Völkerrechts». Ist dieses Argument stichhaltig? Wird Ihrer Meinung nach Russ­land mehr ins Visier genommen als andere Staaten?
Es ist offensichtlich, dass gegenüber Russland mit verschiedenen Ellen gemessen wird. Was man bei verschiedenen anderen Staaten kritiklos hinnimmt, verzeiht man Russland nicht. Herr Le Guen spricht von «Völkerrecht», aber die Russen haben genau erkannt, dass hier mit zwei Ellen gemessen wird und dass der Westen problemlos davon absehen kann, wenn es ihm in den Kram passt, so wie im Kosovo oder im Irak. Von anderen dagegen, wie Russ­land, muss das Völkerrecht buchstabengetreu respektiert werden. Ich erinnere an ein Ereignis, das Herrn Le Guen nicht stört: Saudi-Arabien und seine Alliierten des Golf-Kooperationsrates bombardieren den Jemen seit Monaten ohne jegliches Mandat des Uno-Sicherheitsrates. Es stört Frankreich nicht, diesen Staaten Waffen zu verkaufen. Es ist paradox, in bezug auf die Krim die empörten Unschuldigen zu spielen und die Auslieferung der Mistral-Schiffe nach Russland zu verweigern, während wir gleichzeitig keine Hemmungen haben, Waffen und Technologie in die Golf-Staaten zu verkaufen.
Frankreich hat die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt, nicht aber das Referendum, welches die Krim wieder zu einer russischen Region macht …
Mit der gleichen Missachtung des Völkerrechts, das der Westen nun mit Füssen tritt, sind wir bereits 1999 im Kosovo einmarschiert. Wir haben die Resolution 1199 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen miss­achtet, die keinen Armeeeinsatz gegen Serbien ausserhalb einer Uno-Resolution vorsah: Frankreich hat mit den USA und Grossbritannien dieses Land ohne Uno-Resolution bombardiert! Aus rechtlicher Sicht war dies absolut illegal. Wir haben die Resolution 1244 unterstützt, die ausdrücklich vorsah, dass der Kosovo serbisch bleibt, als weitgehend autonome Provinz. Wir haben dem 1999 zugestimmt, und wir haben uns 2008 darüber hinweggesetzt. Wir sehen uns in einer Art neuen Kalten Krieges, den die Gemüter nie vergessen haben, die unfähig sind, Russland anders zu betrachten als einen Feind. Die russische Macht wird als Bedrohung wahrgenommen, die eingeschränkt werden muss. 
Vertieft sich der Bruch zwischen denen, die den Dialog mit Russland aufrechterhalten wollen, und den Anhängern der euroatlantischen Diplomatie heute noch mehr?
Der Begriff «Bruch», den Sie benutzen, ist richtig. Wir haben das rationale Denken verlassen. Zwischen den beiden Lagern fliegen die Schimpfworte hin und her. Ich werde als Anhänger des französisch-russischen Dialogs betrachtet: Regelmässig werde ich wie ein «von Moskau bezahlter Agent» bezeichnet, als «FSB-Agent» [russischer Inlandsgeheimdienst, Anm. d. Red.], der seine Befehle vom Kreml erhält, ja sogar als Verräter meines Landes. Es gibt keinen Dialog oder vernünftigen Austausch mehr, sondern nur noch McCarthyismus [antikommunistische Politik der USA in den 1950er Jahren, Anm. d. Red.]. Wenn man nicht auf der euroatlantischen Linie ist, wird man grundsätzlich als Feind des Vaterlandes betrachtet und von jeder Entscheidungsposition ferngehalten, ob privat oder staatlich.
Thierry Mariani [früherer Minister, zurzeit Parlamentsabgeordneter (Les Républicains) für die im Ausland lebenden Franzosen, Anm. d. Red.] kündigt bereits eine nächste Reise auf die Krim im Oktober an. Was werden diese engeren Bindungen zwischen Parlamentariern an den französisch-russischen Beziehungen ändern?
Unglücklicherweise nichts, weil diese Parlamentarier weit davon entfernt sind, für die Mehrheit des Parlaments repräsentativ zu sein. Sie ermöglichen höchstens ein alternatives Band der französischen Diplomatie gegenüber Russland aufrechtzuerhalten, eine freundschaftliche Verbindung, die aufzeigt, dass zahlreiche Franzosen die Sanktions­politik als absurd und kontraproduktiv betrachten.
Wie beurteilen Sie die Zukunft der französisch-russischen Beziehungen aus diplomatischer und wirtschaftlicher Sicht?
Zurzeit sind sie blockiert und werden es auch bleiben, solange man Russland als Feind Frankreichs betrachtet. In Wirklichkeit hat Frankreich keinerlei ernsthafte Meinungsverschiedenheiten mit Russland, sondern eher gemeinsame Interessen. Solange die Leute, die eine friedliche und vernünftige Sichtweise der Diplomatie haben, die Sache nicht wieder in die Hand nehmen können, wird das Problem weiter bestehen.
Kann Frankreich seine Beziehungen zu Russ­land im Rahmen der Europäischen Union verbessern ?
Beim Thema Russland ist kein Unterschied zwischen EU und USA feststellbar! Die EU hat keine eigene Diplomatie, da die Interessen ihrer Mitglieder oft voneinander abweichen. Federica Mogherini [hohe Vertreterin der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik] sagt kein Wort, das den amerikanischen Interessen widersprechen könnte. Die Unabhängigkeit Frankreichs von den Vereinigten Staaten ist warme Luft. Anhand von TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen) ist leicht zu erkennen, dass wir bereit sind, unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben. Die Wiederaufnahme stabiler diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und Russ­land kann nicht im Rahmen der EU stattfinden, sondern nur auf bilateralem Weg. Aber da wir uns seit etwa zehn Jahren mit vollen Segeln dem euroatlantischen Lager angeschlossen haben, das heisst seit der Rückkehr Frankreichs in die integrierte Nato-Kommandostruktur auf Initiative von Nicolas Sarkozy, und da dieser Atlantismus in allen Punkten von François Hollande geteilt wird, werden wir es nie wagen, eine Position einzunehmen, die von derjenigen der USA abweicht.     •
Quelle: © Philippe Migault, Eléonore de Vulpillières/Le Figaro.fr/2015
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Philippe Migault ist Forschungsdirektor am «Institut für internationale und strategische Beziehungen» in Paris (Institut de relations internationales et stratégiques, IRIS) und Mitglied des «Forschungszentrums für Industrialisationsfragen – Hochschule für Sozialwissenschaften» [Centre d’études des modes d’industrialisation – Ecole des Hautes études en sciences sociales, CEMI-EHESS]. Von 1999 bis 2006 war er Reporter und Experte für Verteidigungsfragen beim «Figaro» und hat aus vielen Krisenzonen berichtet (Kosovo, Afghanistan, Zentralasien, Elfenbeinküste, DRKongo, Haiti, Libanon, …). Bei seiner Unterrichtstätigkeit beschäftigt er sich insbesondere mit Sicherheits- und Verteidigungsfragen, Fragen der Waffenindustrie und der dualen Technologien in Russland und in der Europäischen Union sowie mit Politik, Wirtschaft und Verteidigungsfragen der Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2226

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