Wednesday, March 18, 2015


Das deutsche Schweigen über Israel und sein Preis


Omri Boehm

9. März 2015 in der New York Times


I.
 Schauen Sie sich die Medien in fast jedem Land an irgendeinem Tag an und Sie werden sehen, dass es keinen Mangel an Meinungen über Israel und seine Politik gibt. Wenn also eine respektierte Person des öffentlichen Lebens sich weigert, seine eigene Meinung mitzuteilen, ist es wichtig, das zur Kenntnis zu nehmen.
In einem ausführlichen Interview, das er der israelischen Tageszeitung Haaretz 2012 gab, wurde der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nach seiner Meinung über die Israelische Politik gefragt. Seine Antwort war, dass während „die gegenwärtige Situation und die Methoden der israelischen Regierung… eine Art politischer Evaluation“ erforderten, dies nicht „die Aufgabe eines privaten deutschen Bürgers (seiner) Generation (sei).“ (Hervorhebung von mir).
Wenn Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Günter Grass es nicht schaffen, sich zu äußern, dann geraten sie in eine geläufige und gefährliche Falle.
Die Abneigung deutscher Intellektueller, kritisch über Israel zu sprechen, ist natürlich verständlich. Viele würden zustimmen, dass es in diesem Fall nur angemessen sei, einen Kommentar abzulehnen – die deutsche Verantwortung für die Verbrechen des Holocaust lasse es so erscheinen. Offensichtlich spricht Habermas’ Schweigen für viele andere Intellektuelle, einschließlich solche, die jüngeren Generationen angehören.
Dennoch, das Problem mit Habermas’ Antwort gegenüber Haaretz und die Haltung, die sich darin verkörpert ist, dass Habermas in Wirklichkeit überhaupt nicht viel von einem privaten deutschen Bürger hat: Wenn die Quintessenz des öffentlichen Intellektuellen Zuflucht im Privaten sucht; wenn der Begründer eines philosophischen Zweigs, der sich Diskursethik nennt, sich zu sprechen weigert, hat das theoretische und politische Konsequenzen. Das Schweigen selbst ist hier ein Sprechakt und allerdings ein äußerst öffentlicher.
Um die Bedeutung dieses Schweigens zu verstehen, muss man auf Kants Begriff der Aufklärung zurückgehen. In seiner gut bekannten Abhandlung von 1784 “Was ist Aufklärung?” definiert Kant die Aufklärung als “Ausgang des Menschen aus seiner selbst-verschuldeten Unmündigkeit”, einem Wachstumsprozess, der darin besteht, den “Mut” zu finden, selbständig zu denken. Das bedeutet jedoch nicht, für sich selbst oder alleine zu denken. Im Gegenteil besteht Kant darauf, dass der Gebrauch "des eigenen Verstandes" nur aufgrund eines “öffentlichen Gebrauchs der eigenen Vernunft” in mindestens zwei aufeinander bezogenen Arten möglich ist.
Erstens muss man, in der Absicht selbständig zu denken, danach streben, die Perspektive der eigenen Abhängigkeiten zu transzendieren – persönliche, geschichtliche, berufliche, bürgerliche – und versuchen, aus einem kosmopolitischen „Standpunkt aller anderen“ zu urteilen. Zweitens, und eng damit verbunden ist die Idee, dass für sich selbst zu denken nur möglich ist, wenn man laut denkt. Wir wären nicht in der Lage „viel“ zu denken oder allzu „korrekt“, schreibt Kant, wenn wir nicht miteinander denken würden „mit anderen, mit denen wir kommunizieren.“ Unsere eigene Perspektive zu transzendieren aber hängt davon ab, unsere Meinungen dem Urteil der „gesamten lesenden Öffentlichkeit mitzuteilen – danach strebend, durch die öffentliche Debatte eine Vereinbarung „universeller menschlicher Vernunft (zu erreichen), in der „jeder seine eigene Meinung hat.“
Einer von Habermas’ einflussreichsten Lehrern, der Philosoph und Musikwissenschaftler Theodor Adorno, übernahm diese Formulierung 1959 in einer Vorlesung als er sagte, dass Aufklärung darin bestehe, der Verwendung des „zerstörerischen Worts „als“ zu widerstehen.“ Wir begegnen diesem Wort, erklärt er, wenn „Menschen in einer Diskussion sagen ‚als Deutscher kann ich nicht akzeptieren, dass…’ oder ‚als Christ habe ich auf diese und jene Weise zu reagieren.“
Die Konsequenzen, die das für die israelische Frage hat, sind leicht zu überschauen. Ein Deutscher, der sich weigert, israelisches Verhalten zu kommentieren – den persönlichen Verpflichtungen treu bleibend, die durch seine deutsche Vergangenheit erzeugt wurden – verweigert nahezu buchstäblich die Haltung der Aufklärung im Hinblick darauf, jüdische Angelegenheiten anzusprechen.
Dies ist eine Position, die die meisten deutschen Intellektuellen möglicherweise lieber vermeiden würden; und es wäre ein Fehler – einer freudschen Analyse wert – zu behaupten, dass, im Fall eines Deutschen, der einen Juden kritisiert, es einen Sinn ergeben könnte, eine Ausnahme in Kants Idee zuzugestehen. Exakt deswegen, weil Denken im Sinne der Aufklärung schon in seinen frühesten Anfängen von seiner Verbindung zum Antisemitismus verfolgt wurde – besonders deswegen, weil es oft versucht war, die Juden und ihre Tradition als sein mythisches „Anderes“ zu behandeln – gerät die Unterdrückung öffentlicher Kritik des jüdischen Staats auf gefährliche Weise in eine bekannte Falle. Die Aufgabe deutscher Intellektueller – wenn überhaupt, dann wegen der deutschen Geschichte und nicht ihrer zum Trotz – ist die, Israel im Bereich öffentlicher vernünftiger Diskussion zu erfassen; und genau gesagt, es nicht in irgendeinen metaphysischen Bereich einzuschließen, über den, wie Wittgenstein sagen würde „man schweigend hinweggehen muss.“
Das wird nirgends deutlicher als in Habermas’ eigenem Denken. Diskursethik wurde als heldenhaftes intellektuelles Bestreben entwickelt, aufgeklärtes Denken aus den Trümmern des Dritten Reichs zu bergen – um damit Kants Ideal öffentlichen Denkens als Entgegnung zu Heideggers Idee persönlicher Authentizität anzubieten. Diese Rückkehr zu Kant wird nicht erreicht sein, bevor deutsche Intellektuelle nicht den Mut finden, über Israel zu sprechen und zu denken. Historisch gesprochen, mag dies nichts weniger sein als der ultimative Test aufgeklärten Denkens selbst.
II.
Nun denken Sie an den Fall eines anderen von Deutschlands prominenten Intellektuellen – den mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller und Dichter Günter Grass. „Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes“ schrieb er in einem nun verrufenen Gedicht „Was gesagt werden muss“, „dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge“. Und er setzt fort: „Jetzt aber, weil aus meinem Land/ das von ureigenen Verbrechen/ die ohne Vergleich sind/ Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird(…)/ ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll (…)/ sage ich, was gesagt werden muß…“
Als Habermas in seinem Interview mit Haaretz nach Grass’ Gedicht gefragt wurde, antwortete er, dass er keine „vernünftige Erklärung“ für ein solches Verhalten erkennen könne. „Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Günter Grass kein Antisemit ist“, betonte Habermas; „aber“ wiederholte er seine frühere Aussage, „es gibt Dinge, die Deutsche unserer Generation nicht sagen sollten.“
Das ist wohl zu großzügig. Entgegen seinem Titel sagt „Was gesagt werden muss“ wenig, wenn überhaupt irgendetwas, über Israel. Schmerzlich an Grass’ Intervention ist nicht der Inhalt, aber die Form: Das Gedicht klagt über Schweigen aber bricht es nicht; Grass verdammt die Selbstzensur derer, die davor Angst haben, Antisemiten genannt zu werden, aber dann erliegt er dieser – hat nicht den Mut, den jüdischen Staat mit den einfachen Mitteln einer gewöhnlichen Diskussion anzusprechen. Das Ergebnis ist eine nutzlose Kritik Israels, aber ein sehr effektives Verbreiten von Abneigung. Habermas’ Schweigen über Israel schafft es zwar nicht, kritischer zu sein, aber poetischer.
Unter den gegebenen Umständen indes, ist der Preis des Schweigens zu hoch. In einer Zeit, in der Israels Premierminister zynisch die Erinnerung an den Holocaust missbraucht um politisch zu punkten – die Farce begann 2006, als er sagte, dass „es das Jahr 1938 sei und Iran sei Deutschland“, und sie tauchte letzte Woche wieder auf, als Premierminister Benjamin Netanjahu zum Kongress der Vereinigten Staaten sprach – und wenn Elie Wiesel, der Netzanjahu zum Kongress begleitete, als Vertreter einer mächtigen Siedlerorganisation auftritt, sind vernünftige, ethische Stimmen und nicht Schweigen vonnöten.
Nach 48 Jahren militärischer Besatzung, acht Jahren Belagerungszustand in Gaza und mehr als 2000 durch Israel getöteten Palästinensern gerade erst vergangenen Sommer, unterstützen deutsche Intellektuelle, die nicht sprechen, faktisch einige Aussagen, die sie eindeutig besser ablehnen sollten. Zum Beispiel, dass ihre Geschichte sie mit den Juden verbindet – repräsentiert durch den israelischen Staat – nicht mit dem universellen Humanismus. Es gibt eine vernünftige Antwort auf diese Behauptung, und die ist, dass Deutsche beiden gegenüber verbunden sind, und dass darin kein Gegensatz liegt. Aber man kann diese gesunde Position nur dann guter Hoffnung unterstützen, wenn man die Verletzung internationaler Gesetze und Menschenrechte durch Israel verurteilt, auf diese Weise eine Position einnehmend, die sowohl die Ideale des Humanismus als auch die Juden unterstützt. Wenn man darin versagt, über Israels Vergehen zu sprechen, wird Deutschland nicht nur darin versagen, seinen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden, sondern es untergräbt den Holocaust als signifikante politische Vergangenheit.
Es wäre albern für einen Israeli meiner Generation, die Angst zu unterschätzen, der deutsche Intellektuelle begegnen müssen, wenn sie gegen Israel Stellung beziehen. Aber wenn aufgeklärtes Denken als politische Antwort auf Deutschlands Vergangenheit wirken kann, muss Mut dafür gefunden werden, diese Angst zu überwinden. Das Schweigen über Israel zu wahren ist an diesem Punkt weder der richtige Weg, noch ist es ein effektiver Weg um der Geschichte des Holocaust gerecht zu werden.
Omri Boehm ist Assistenzprofessor für Philosophie an der New School for Social Research (New York City). Er ist der Autor von “The Binding of Isaac: A Religious Model of Disobedience” und, erst kürzlich, “Kant’s Critique of Spinoza.”

Übersetzung: M. Brunken

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