Monday, February 23, 2015

«Hören wir auf, die Russen nach unseren eigenen Kriterien zu beurteilen»

Interview mit Dr. Hélène Carrère d’Encausse*, «Secrétaire perpétuel» an der Spitze der «Académie française»im Interview mit
Le Figaro vom 6.2.2015
Le Figaro: Präsident Hollande und die deutsche Kanzlerin treffen Präsident Poroschenko in Kiew und Präsident Putin in Moskau. Was kann man von diesen Begegnungen erwarten?
Hélène Carrère d’Encausse: François Hollande und Angela Merkel haben den einzig möglichen Weg – den einer politischen Lösung – zur Vermeidung einer Rückkehr in ein Klima des Kalten Krieges in Europa eingeschlagen. Sie tun es jetzt, wo sich die Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine stellt, was überaus gefährlich und kontraproduktiv wäre. Wir haben die Folgen der Waffenlieferungen im Syrien-Konflikt und in der Libyen-Intervention gesehen: eine unkontrollierbare Verteilung der Waffen in alle Lager. Waffenlieferungen, vor allem aus Nato-Ländern, können die Beziehungen zu Russland nur verschlechtern. Das Minsker Abkommen kann als Grundlage für die Suche nach einem Kompromiss wieder aufgenommen werden. Es sah die Befreiung aller Kriegsgefangenen und Geiseln vor und für die Separatisten sollte es, in Ermangelung eines föderalen Status, den Weg zu einem «Spezialstatus» eröffnen, für die Regionen von Donezk und Lugansk, wo ein bedeutender Anteil russische oder russischsprachige Bevölkerung lebt. Die ukrainische Regierung weigert sich nur schon, über einen solchen Status zu sprechen. Vergessen wir nicht, dass das Feuer im Februar 2014 entzündet wurde, als das neue ukrainische Parlament, die Rada, den Russen und den russischsprachigen Bewohnern dieser Regionen den Gebrauch ihrer eigenen Sprache verweigern wollte. Dieser Entscheid brachte die Krim auf und bot Wladimir Putin die Möglichkeit, diese einzunehmen.
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bringt weiterhin seinen Willen zum Ausdruck, sich der Nato anschliessen zu wollen, was auf Wladimir Putin wie ein rotes Tuch wirkt. Er hält dem entgegen, dass Gorbatschow, als er im Jahre 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands akzeptierte – wozu ihn keine Grossmacht drängte –, die Zusicherung erhalten habe, dass die Nato in Zukunft nicht bis an die Grenzen seines Landes vordringen werde. Ein Beitritt der Ukraine zur Nato würde eine lange gemeinsame Grenze zwischen Russland und der Nato bedeuten. Deutschland und Frankreich unterstützen Putins Position.
Kann Putin lange auf einem Standpunkt verweilen, welcher der Wirtschaft seines Landes schadet (Senkung des BIP, Kapitalflucht, Preissenkung des Erdöls)? 
Die Wirtschaftssanktionen bringen Russ­land schon sehr in Bedrängnis, aber es gibt Schlimmeres. Das Schlimmste ist die durch die USA und Saudi-Arabien organisierte Senkung des Erdölpreises. Russland wurde bereits 1984, kurz vor dem Amtsantritt von Gorbatschow, einer solchen Massnahme ausgesetzt. Die Reduzierung der Erdöleinnahmen wird die russische Wirtschaft, die sich bereits am Rande einer Rezession befindet, schwächen, und zwar vor allem die aktive und gebildete Mittelklasse, die in den letzten Jahren entstanden ist und das Rückgrat des modernen Russlands bildet. Die Infragestellung ihrer Lebensform würde sich negativ auf Putins Popularität auswirken oder ihn gar destabilisieren.
Ein weiteres Risiko ist die von den Russen empfundene Missachtung durch den Westen, die ihren Nationalstolz verletzt. Dies könnte Russland dazu bewegen, sich noch mehr auf Asien auszurichten. Dies würde für Europa zu einer Distanzierung von Asien führen – wo sich nunmehr das internationale Leben abspielt –, da Russland dafür das Bindeglied bildet. Russland ist die notwendige Brücke zwischen Europa und Asien.
Kann Putin wirklich auf China zählen, das sich im Sicherheitsrat, bei der Abstimmung über die Annektierung der Krim durch Russ­land, seiner Stimme enthalten hat?
China und Russland haben viele gemeinsame Interessen, vor allem die Allianzen, in denen beide Länder eingebunden sind: die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), dessen nächste Versammlung am Rande des G-20-Gipfels in einem Jahr in Peking und an anderen Orten in Asien stattfinden wird. Die beiden Länder ergänzen sich auch im wirtschaftlichen Bereich und haben Möglichkeiten, in der Welt zu wirken. Der ferne Osten Russlands bildet eine Brücke zwischen diesen beiden Ländern, wo sich das Leben der Bevölkerungen durchmischt; es ist somit eine echte Plattform für die Entwicklung Eurasiens.
Weshalb nutzt Putin nicht seinen historischen Einfluss im Mittleren Osten, um sich im Kampf gegen den Terrorismus nützlich zu machen und auf diese Weise die Verbindung mit dem Westen wiederherzustellen?
Wir könnten die Frage umdrehen: Weshalb bittet der Westen nicht Russland bezüglich der Situation im Mittleren Osten um Hilfe, da er nicht in der Lage ist, diese selber zu lösen? Weshalb kämpft der Westen an zwei Fronten gleichzeitig, in der Ukraine und im Mittleren Osten? Wäre es nicht einfacher, den Druck in der Ukraine zu vermindern und sicherzustellen, dass die Nato sich dort nicht ausbreitet, um dann den beruhigten Putin im Mittleren Osten – in der syrischen und in der iranischen Frage sowie im Kampf gegen den Extremismus – um Hilfe zu bitten? Der russische Präsident fürchtet den radikalen Islam noch mehr als wir. Vor den Toren Russlands liegt Afghanistan, dessen Zukunft durch den Rückzug der westlichen Militärtruppen mehr als beunruhigend ist. Zudem zählt das Land 20 Millionen Muslime an seinen Grenzen, vereinigt in mächtigen kleinen Staaten wie den tatarischen und tschetschenischen Republiken, die sich mit den Muslimen solidarisch fühlen. Die Gefahr einer Ansteckung durch den Extremismus muss durchaus in Betracht gezogen werden.
Angesichts der Herausforderungen durch den Terrorismus, denen unsere Welt derzeit ausgesetzt ist, wäre es durchaus an der Zeit, dass Europa und die USA sich eine Gesamtschau der heutigen Krisen vor Augen führen und diese der Schwere nach klassifizieren. Ist es nicht viel wichtiger, den Extremismus zu bekämpfen und den Frieden im Mittleren Osten wiederherzustellen, als die Bedeutung Russlands in Europa einzuschränken?
Plant Putin mit seiner Annäherung an Griechenland und seinem neuen Premierminister Alexis Tsipras nicht die Destabilisierung Europas?
Das ist sehr fraglich. Zuerst einmal ist es Alexis Tsipras, der versucht, sich mit Putin gut zu stellen. Dazu kommt, dass Griechenland zwar für etwas Aufregung sorgen kann, aber es hat nicht wirklich die Möglichkeit, in der aktuellen Krise viel zu bewirken. Putin ist ein sehr geschickter Mann, der die Gelegenheiten nutzt, das hat er in der Krim gezeigt; aber er hat überhaupt kein Interesse, zum Zusammenbruch des Euro beizutragen, wie einige sich dies wünschen. Im übrigen weiss er, dass die eigene Bevölkerung dies nicht goutieren würde.
Was geht in Putins Kopf wirklich vor? Will er ein Grossrussland schaffen, das im völligen Widerspruch zum Westen steht und auf der orthodoxen Religion gründet?
Man präsentiert Putin als Diktator, als Chauvinist, geprägt von extremen Vorstellungen – einem Eurasismus nach Dugin1 –, das ist völlig übertrieben. Der russische Präsident hat ein Hochschulstudium absolviert, er ist fasziniert von der Geschichte, vor allem derjenigen des früheren Russlands, die man nach der Auflösung der UdSSR entdeckte. Er will, dass sein Land mit seiner grossartigen Geschichte und Kultur als solches anerkannt wird, was nicht immer der Fall ist.
Er ist nicht grundsätzlich antiwestlich eingestellt. Er fragt sich nur, ob man, um ein Land zu modernisieren, in jedem Fall genau den Westen kopieren muss. Für die Russen ist dies eine uralte Diskussion. Sie hat im 19. Jahrhundert die «Westler» und die «Slawophilen» entzweit, die weder «Faschisten» noch angehende Diktatoren waren, sondern sehr bedeutende russische Intellektuelle. Putin fordert, auf dem Weg zur Modernität, das Recht zu haben, die russische Kultur miteinzubeziehen; auch die Religion muss da ihren Platz haben. Dies scheint ihm um so notwendiger, als die lang verfolgte orthodoxe Kirche in den 1980er Jahren am Wiederaufblühen Russlands und des kollektiven Bewusstseins massgeblich beteiligt war. Wenn wir aufhören, die Russen nach unseren eigenen Kriterien zu beurteilen, wird dies helfen, in Europa wieder Solidarität und ein friedliches Klima aufleben zu lassen. Dies wird die Rettung der Einheit der Ukraine ermöglichen, was unerlässlich ist.    •
Quelle: Le Figaro vom 6.2.2015, © Marie-Laetitia Bonavita
1    Eurasismus ist eine in den 1920er Jahren von russischen Emigranten formulierte geopolitische Ideologie. Sie vertritt, dass Russland als kontinentale Macht in einem Fundamentalgegensatz zur angelsächsisch geprägten westlichen Welt stehe. Alexander Dugin ist ein gegenwärtiger Vertreter des Neo-Eurasismus, der 2002 in Russland eine Eurasische Partei gründete. (Anm. des Übersetzers)
(Übersetzung Zeit-Fragen)

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