Thursday, December 13, 2012

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch


Irene Eckert (Erstpublikation 2010 im Icarus, Zeitschrift des GBM)

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin) -

es bedarf dazu der theoretischen und organisierten Anstrengung.


Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Das kapitalistische System
bietet den Menschen keine Zukunft. Das Bildungswesen versinkt im
Privatisierungssumpf. Aufrüstung und Kriege verschlingen Milliarden an
Investitionsmitteln, die für basale Infrastruktureinrichtungen fehlen.
Massenarbeitslosigkeit und Prekariat sind die Zukunftsmelodie auch für
akademisch gebildete junge Menschen. Das kulturelle Niveau befindet
sich auf einem beklagenswerten Tiefstand. In Kopenhagen wurde im
Dezember des Vorjahres die Hoffnung auf ein Umlenken auch in Sachen
Umweltschutz zu Grabe getragen, nachdem im April die
Anti-Rassismuskonferenz in Genf kläglich gescheitert war und zu Ende
ging, ohne minimale Hilfestellung für die bedrängten Menschen in
Palästina zu einzufordern.

Nimmt es nicht Wunder, dass angesichts der sich ständig
verschlechternden Lebensbedingungen zumindest in EU-ropa und
Nordamerika sich vergleichsweise wenig Widerstand rührt? Vor allem die
Jugend, die es besonders angehen müsste, tanzt auf dem Vulkan und
sucht sich im - wie auch immer gearteten - individuellen Glücksstreben
zu verwirklichen.

Währenddessen versinken Staats- und Gemeindekassen tief in den roten
Zahlen. Hypotheken auf die Zukunft werden für das Militär und für die
polizeiliche Überwachung der Bürger aufgenommen, auch die private
Verschuldung der Haushalte steigt ins Unermessliche. Präventive Mittel
gegen Bürgerinnen und Bürger sind schon einsatzbereit, noch ehe diese
sich auf die Möglichkeit von Widerstand verständigt haben.

Wenn aber die immer drastischer werdenden Zumutungen vom Volke derzeit
noch schwermütig hingenommen und für unabänderlich erachtet werden,
dann hat diese bleierne Schwere gewichtige Gründe, die mit dem Ausbau
des Polizeistaates allein nicht hinreichend erklärt sind. Die
wirklichen Ursachen dafür müssen daher aufgespürt und beseitigt
werden, damit die Schneepflüge durchkommen und die Wege, die aus der
Gefahr führen, wieder beschritten werden können.

Das Gespenst des Kommunismus, das die Oberen noch als Schattenbild
mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser, muss wieder sinnliche
Gestalt annehmen. Seine reale Bedeutung für das Überleben der Gattung
Mensch muss neu ausgelotet werden. Die Tatsache, dass die Länder, die
mit Nachdruck und Beharrlichkeit am Aufbau einer sozialen,
sozialistischen oder zukünftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung
weiterarbeiten mit Boykott, Sanktionen und bösartigsten Verleumdungen
überzogen werden, ist als Denkaufgabe zu begreifen. Die ebenso
gewichtige Tatsache, dass Länder, in denen sozial
verantwortungsbewusste Politiker das Sagen haben, schwerwiegender
Menschenrechtsverletzungen wegen angeprangert werden und ihnen mit
Krieg, ja sogar mit Atomkrieg, gedroht wird, ist eine gleich große
Herausforderung an den gesunden Menschenverstand. Als Denksportaufgabe
sollte uns auch die Frage dienen, warum die wenigen kommunistischen
Parteien dieser Erde, die nach 1956 nicht allmählich umgekippt sind,
sondern sich - wenn auch oft nach schweren inneren Kämpfen - auf das
gute alte, weil Erfolg verheißende Erbe besannen, warum gerade diese
Parteien sich einen Massenanhang zu sichern wissen. (Siehe allen voran
in Griechenland die KKE.) Die Abkehr dagegen von wissenschaftlicher
Gründlichkeit und kreativ-klassenkämpferischer Anwendung der Lehre der
Klassiker führte allmählich aber dafür zielsicher ins Aus, sprich zur
Zerstörung der Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnungen
und zur Zerstörung der kommunistischen Parteien von innen heraus mit
all ihren verheerenden Folgen für die betroffenen Nationen und für die
ganze Welt. Die Zerrüttung der kommunistischen Parteien durch den
modernen Geschichtsrevisionismus, enthauptet sozusagen die Massen,
indem sie ihnen ihre Avantgarde raubt. Sie lähmt folglich zwangsläufig
die Widerstandskraft der Massen. Die Folgewirkung auf die
Gewerkschaftsbewegung und auf linke Parteien ist fatal. Sie führte zur
Sozialdemokratisierung mit all ihren seit spätestens 1917 bekannten
Folgen. Ja sie treibt die Sozialdemokratie immer noch weiter nach
rechts. Der Geist des Humanismus, den die Arbeiterbewegung im besten
und umfassendsten Sinne verkörperte - schließlich war sie angetreten,
das Menschengeschlecht aus der Knechtschaft zu befreien - ist damit
mitten ins Herz getroffen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen
Staatengemeinschaft, letztlich ein Ergebnis der modernen
Geschichtsverdrehung und der Verleumdung ihrer Errungenschaften,
wurden die opferreich erkämpften Ergebnisse der Nachkriegsordnung
revidiert. Mit immer gewichtigerer Beteiligung der wiedervereinten und
neu erstarkten Großmacht Deutschland waren dadurch sehr schnell
zunächst in Europa, dann in der Welt, Kriege äußerst zerstörerischen
Ausmaßes wieder möglich geworden.

Solches geschah erstmals im Januar 1991, im zweiten Golfkrieg unter
Einsatz von Uranmunition. Für diesen Krieg gegen den Irak erwirkten
die interessierten Parteien - unter anderem - durch geschickte
Manipulation der Weltmeinung die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates.
Zur Erinnerung aus aktuellen Gründen: Der erste Golfkrieg war Anfang
der 80er Jahre gegen den Iran geführt worden. Giftgas kam dabei zum
Einsatz seitens des Nachbarlandes Irak. Dieser Krieg war im Kern
gerichtet gegen die 1979 einsetzende "grüne" (islamische) Revolution,
die das Schah-Regime hinweg gefegt hatte. Angestiftet worden war der
US-verbündete Staatschef des arabischen Landes Saddam Hussein zu dem
kriegerischen Vorgehen gegen die schiitischen Brudernation von seinen
kolonialen Ratgebern. Diese beseitigten ihn später wie ein Ungeziefer
- auch weil der einst Vielgepriesene ein Vielwisser war - und sich
seinerseits dem Land, das den Schah in den Sattel gehoben hatte, als
nicht mehr gefügig genug erwies. (Sein christlicher Außenminister
Tariq Aziz wird noch immer unter unwürdigen Bedingungen in Haft
gehalten und vermutlich für die Hinrichtung präpariert.) Im Grunde
hatte der zum "Erzdiktator und zweiten Hitler" gekürte irakische
Regierungschef Hussein nicht viel anders gehandelt als der vor der
Inthronisierung des Schah Pahlevi gestürzte iranische Nationalist und
Demokrat Mossadegh. Letzterer hatte es 1952 gewagt, die Ölressourcen
des Landes zu verstaatlichen. Ersterer verteilte die staatlichen
Einnahmen der Ölindustrie für großzügige Investitionen in die
Infrastruktur des Landes, den Ausbau der Bildungseinrichtungen, zur
Stützung des Lebensniveaus seiner Bürger. So etwas missfällt dem
Imperium, wie sich heute an der Bedrohung Venezuelas, aber noch
stärker an der des Iran zeigt, das durch den populären, sozial
eingestellten und nicht erpressbaren Präsidenten Ahmadinedschad
geführt wird. Dass beide "Regime" befreundet sind und eng kooperieren,
macht die Sache in den Augen der Herren, die die Welt regieren, nicht
besser. Dass Chavez katholischer Christ und Ahmadinedschad ein Muslim
ist, ändert nichts an deren Schurkenstatus.

Da die UdSSR 1989 zerschlagen und gedemütigt, dem Westen ausgeliefert,
am Boden lag, blockierte das große Russland nicht mehr durch sein Veto
den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das gemeinsame Ziel der
imperialistisch geführten Länder schien endgültig erreicht: Der
Sozialismus röchelte im Todeskampf. Das Ende der Geschichte wurde
ausgerufen. Das wieder vereinte imperialistische Deutschland, das im
20. Jahrhundert zwei Anläufe unternommen hatte, die Welt zu erobern,
spendete unter Kanzler Kohl freimütig 18 Milliarden DM für das
militärische Eingriffen zur Sicherung der Ölquellen und seiner
Einflussmöglichkeiten am Golf. Beim nächsten aber Mal, so wurde
bereits damals vollmundig verkündet, würden die Deutschen nicht so
billig davon kommen. Nachdem die Ölbrände am Golf nach einem Jahr
schließlich gelöscht waren und Tausende irakischer Soldaten bei
lebendigem Leib im Wüstensand begraben und vergessen waren, vergessen
ebenso wie ihre am Golfkriegssyndrom erkrankten US-amerikanischen
Kameraden, die der Uranmunition schutzlos ausgeliefert worden waren,
begann man die Zündschnur im Balkan zu legen. Im Frühjahr 1999
entbrannte das Inferno des Bombenkriegs gegen Belgrad, flogen
"Irrläufer" auf die Brücke von Vavarin und die Vokabel
Kollateralschäden wurde später zum Unwort des Jahres. Inzwischen war
die deutsche Unterstützung bereits zur "robusten" herangereift. Noch
robuster wurde sie seit dem ersten Kriegseinsatz gegen Afghanistan
nach dem 11. September 2001. Der globale Antiterrorkrieg war
entfesselt. Dass seither der Terror auf allen Gebieten keine Maßstäbe
mehr kennt - man denke nur an Abu Ghraib oder Guantanamo Bay, an
Folterflüge und Folterlager weltweit - sollte unsere Nachdenklichkeit
weiter herausfordern.

Anstatt aber der immer unfasslicher werdenden Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zu gedenken, die diese neuen "asymmetrischen Kriege",
zynisch "humanitären Interventionen" genannt, nach sich ziehen, lenken
unsere ins Kriegsgeschehen eingebetteten Medien unsere Aufmerksamkeit
lieber auf die "Verbrechen" des Sozialismus. Das ist für manche
ergiebiger, sichert es doch gewisse Arbeitsplätze für lohnabhängige
Schreiberlinge. Vor allem aber sichert es ab gegen die für das Kapital
bedrohliche Wiederauferstehung des Gespenstes "Kommunismus". Deswegen
wurden im Super-Jubiläumsjahr 2009 angesichts des 20-jährigen
Niedergangs der DDR, deren "Niedrigkeiten" in einer endlos Schleife
gewürdigt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt und etwa
Ablenkungsmanöver von Verbrechen im globalen Stile im Sinn hat.

Wer aber eine Neue Welt aus der Asche der Alten errichten will, um so
das Überleben der Gattung zu sichern, muss sich die geschichtlichen
Tatsachen vergegenwärtigen und begreifen, welche gesellschaftlichen
Kräfte, aus welchem Interesse und mit Hilfe welcher Methoden oder
genauer mittels welcher Intrigen die Geschichte für ihre Belange
umdefinieren.

Im Januar 1919, der Erste Weltkrieg war kaum zu Ende, versuchten die
Herrschenden die anschwellende kommunistische Bewegung in der Wiege zu
ersticken. In Russland aber wurde unterdessen, ungeachtet aller
gewaltsamen Interventionen, die Gesellschaft von unten herauf
umgestaltet. Unter guter kommunistischer Führung erstarkte dennoch -
trotz der verhängnisvollen Spaltung - die Arbeiterbewegung im
imperialistischen Deutschland so sehr, dass die Oberen zu der List
griffen, einen Proleten auszugucken und ihn an die Spitze einer sich
national und sozialistisch nennenden Arbeiterpartei zu hieven.

Im Jahre 1939, nur 20 Jahre später, war dann dank massenhafter
Konzentrationslager, dank Folter und Mord, dank Verrat und mithilfe
von schlimmer Demagogie die Kriegsopposition so geschwächt und die
Aufrüstung so weit vorangetrieben, dass ein zweiter Anlauf zur
Welteroberung von deutscher Seite aus gestartet werden konnte. Die
Welt musste Auschwitz und Hiroshima, musste 60 Millionen Todesopfer
erdulden, unter ihnen 27 Millionen Sowjetbürger, bevor, im Gefolge
gescheiterter deutscher Welteroberungspläne, 1949 zwei deutsche
Staaten erstanden. Diese neue politische Situation im Herzen Europas
war ein Ergebnis der Kräfteverhältnisse zwischen den einstigen
Alliierten der Anti-Hitler-Koalition.

Noch war man sich in beiden Deutschlands im Volke einig: Von deutschem
Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen. Aber die Kriegsgegner, so etwa
die westdeutsche Frauenfriedensbewegung, (eine Persönlichkeit wie die
Romanistin Clara Maria Fassbinder, die Volksbefragung gegen die
Wiederaufrüstung und natürlich die Kommunisten) wurden bereits in den
frühen 50er Jahren im Westen diffamiert und kriminalisiert. Es gab
schon früh ein erstes politisches Todesopfer, ein junger Arbeiter
namens Philipp Müller starb 1952 durch eine Polizeikugel, weil er
gegen die Wiederaufrüstungspläne der Adenauer-Regierung demonstriert
hatte. Zehntausende Ermittlungsverfahren und die erneute Verurteilung
erprobter und bekannter Antifaschisten schädigten die Bewegung,
konnten sie aber nicht gänzlich auslöschen.

Als Reaktion auf den NATO-Aufrüstungsbeschluss von 1979 erhob sich
wieder eine imposante Friedensbewegung. Hunderttausende gingen bis
1983 dagegen auf die Straße. "Dank" Gorbatschow, der die
Friedensvermittlung in die Hand nahm und dank "klarsichtigen"
Führungspersonals flaute auch diese Bewegung wieder ab. Man setzte
blindes Vertrauen in die Friedensfähigkeit des Imperialismus, seinen
Raubtiercharakter gänzlich verkennend.

Zehn Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze, im Frühjahr 1999
beteiligte sich dann Deutschland zum dritten Mal in einem Jahrhundert
an der unprovozierten Bombardierung von Belgrad. Die offizielle
"Begründung" lautete, man müsse ein "neues Auschwitz verhindern" so
der damalige Außenminister Joschka Fischer. Zum Schutz vor
"Menschenrechtsverletzungen" müsse man eingreifen, denn "man könne
nicht länger zusehen". Auf dem Spruchband einer
Demonstrationsteilnehmerin gegen die Bomben abwerfenden
Menschenrechtsbeschützer war treffend zu lesen: "Bombing for human
rights is like fucking for virginity".

Noch einmal 10 Jahre später im Jahre 2009 trat der unheilsame
Lissabonvertrag in Kraft, die verkappte EU-Verfassung mit ihrer
historisch einmaligen Aufrüstungsverpflichtung. Deutschland hat
maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Vertragswerks, mit dessen
Hilfe das Grundgesetz auszuhebeln ist, insbesondere das Friedensgebot
in Artikel 26. Auf ganz "friedlichem" Wege wird diesmal über den
festgefügten Zusammenschluss Europas unter deutsch-französischer
Führung die neue Eroberung von Ost- und anderen geostrategisch
wichtigen Zonen möglich und wir sichern uns erneut unseren Lebensraum
und unsere Freiheit am Hindukusch.

Dass die Oberen und die Monopolisten sich ihre Einflusszonen, ihre
Ressourcen, ihre Absatzmärkte auf die ihnen zur Verfügung stehende
Weise zu sichern versuchen, ist ihrer Logik, der Logik des
Profitsystems geschuldet. Dass aber die Beherrschten, die
Ausgeplünderten, die Opfer solcher Vorgehensweise nicht rebellieren,
ist Ausdruck ihrer gefühlten Ohnmacht, geschuldet der Verkennung
historischer Vorgänge, Ausdruck des Erfolgs der
Verdummungsmaschinerie, die die Menschenmassen geschickt zu blenden
vermag. Die ohnmächtige Hinnahme deutscher Kriegsbeteiligung - trotz
nachgewiesener mehrheitlicher Ablehnung des Einsatzes in Afghanistan
etwa - ist eben geschuldet dem Fehlen einer orientierenden und den
Massenwiderspruch organisierenden Kraft.

Unorganisiert bleiben die Massen so lange, so lange ihnen keine
Wegmarkierungen zur Verfügung stehen. Dort wo Wegweiser vorhanden
sind, finden die Menschen den Mut und die Energie zu gemeinsamer und
damit wirksamer Gegnerschaft. Sie finden zu solidarischem Handeln.
Solange aber eine schwammig auftretende "Friedensbewegung" in ihren
Reihen mehrheitlich Stimmen verzeichnet, die die Ursachen für die
Kriege eher beim Bedrohten ortet als beim Aggressor, sieht die Sache
schlecht aus. Wenn in der deutschen Hauptstadt die "Friko", das
Akronym für Friedenskoordinationskreis, über das elektronische Netz
als Neujahrsbotschaft dazu auffordert, die Opposition im Iran zu
stärken, einem Lande, das vom Kriege bedroht ist, so kann man daran
sehr schön den verfahrenen Kurs erkennen. Mit solcher
Herangehensweise, mit solchem Personal, lässt sich keine
Antikriegsbewegung erfolgreich organisieren. Wenn schließlich andere,
auch sehr bekannte Stimmen öffentlichkeitswirksam die Meinung
vertreten, heute sei es ungleich schwieriger als zu Zeiten des
Vietnamkrieges, sich mit den durch Krieg und Besatzung verheerten
Länder und ihren Widerstandsbewegungen zu solidarisieren, weil man
etwa in Afghanistan, Irak, Gaza keine vertrauenswürdigen
Ansprechpartner habe, so hat diese Haltung eine ähnlich lähmende
Wirkung. Auch sie hat historische Vorbilder und ähnelt dem Vorgehen
von Leo Trotzki, der in Anbetracht einer vom Kriege bedrohten UdSSR
dazu aufrief, die von Stalin geführte Regierung zu stürzen.

Wenn das Völkerrecht, das ja den Respekt vor der Souveränität der
Staaten zur obersten Maxime erklärt hat, eben um den Frieden zu
wahren, wenn dieses oberste Gebot der UN-Charta, marginalisiert und
entwichtet wird, dann macht man sich, ob bewusst oder unbewusst, zum
Erfüllungsgehilfen der Welteroberer. Dass es heute so schwer fällt,
Recht und Unrecht, Kriegtreiber und Friedensstifter, Aufklärung von
Demagogie zu unterscheiden, hängt mit der Raffinesse der Herrschenden
zusammen, die aus der Geschichte, anders als die Beherrschten, gelernt
haben. Erkennend, dass die gut organisierten, gut geschulten, gut
geführten Massen, die wissen wofür sie kämpfen, unbesiegbar sind,
haben sie sich auf eine weitere Strategie verlagert. Gerade im Januar
sollten wir uns daran erinnern, dass der Kampf gegen die Revolution in
Deutschland (aber auch anderswo) mit der Parole geführt wurde:
"Schlagt ihre Führer tot!" Tötet Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht!
Der Kommissarbefehl Hitlers aus dem Jahre 1941 war die Fortsetzung
solcher gezielten Ausmerzung von Führungspersonal und entsprach
denselben Denkmustern.

Man kann natürlich die Kampfbereitschaft der Massen unterminieren,
indem man ihre Führungspersönlichkeiten zum Abschuss freigibt. Man
kann aber deren Moral noch viel nachhaltiger treffen und dauerhafter.
Ermordete Führer werden schließlich zu Märtyrern, sie leben weiter im
Volk, wie die alljährlichen Märsche Zehntausender zur Grabstätte von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zeigen. Der Rufmord gegen vom Volk
hochgeschätzte Führungspersönlichkeiten und zwar organisiert von oben
herab aus den eigenen Reihen ist eine viel wirksamere Waffe als bloßer
Mord.

Zwar wird der Erfolg auch nicht ewig währen, weil Tatsachen eine
beharrliche Qualität haben, aber man kann über lange Zeiträume hinweg
viel Unheil mit solchem Vorgehen anstiften. Wenn die Argumente der
Gegenseite von den (vermeintlich) Eigenen vorgetragen werden und sich
gegen gewählte und hochgeschätzte Repräsentanten richten, untergräbt
das die Autorität ihres gesamten Wirkens. Noch effektiver ist es,
nicht nur Personen, sondern mit ihnen die theoretischen Grundlagen zu
verteufeln, ohne die keine Praxis erfolgreich sein kann.

In unserem Lande gibt es derzeit aus Gründen solcher historischer und
theoretischer Begriffsverwirrung keine Partei, die über genügend
historische Kenntnisse und über das nötige Analyse-Instrumentarium
verfügt, um erfolgreich programmatisch für die Interessen der Mehrheit
des Volkes zu arbeiten. Ähnliches gilt das für weite Teile der Erde.
Computerprogramme können da auch nicht weiterhelfen. Es muss vielmehr
die Bereitschaft wieder entstehen, sich das gesamte Erbe, die gesamte
Hinterlassenschaft der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung
anzueignen. Die gesamte Aufbauleistung der UdSSR zwischen 1924 und
1939, die Kriegsvermeidungspolitik der sowjetischen Regierung zwischen
1939 und 1941, die strategischen Leistungen des Sowjetvolkes beim
Niederringen Nazideutschlands werden ebenso ausgeblendet wie die
Verdienste der Sowjetunion um den Wiederaufbau des vom Kriege
verheerten Landes. Besonders hinderlich ist für die vorurteilslose
Befassung mit einem so bedeutsamen Geschichtsabschnitt, dass auch sehr
profilierte und engagierte Menschen, ja Kommunisten, die in der DDR
geschult wurden und Geschichte lehrten, sich der vom Mainstream und
leider auch von der kommunistischen Führung vorgegebenen
Geschichtsdeutung scheinbar unhinterfragt unterworfen haben.

Dies geschieht so, während die herrschenden Kreise sehr wohl wissen,
warum sie an diesem verqueren Geschichtsbild feilen und jene insgeheim
encouragieren die dabei mittun, geht es doch um mehr als Symbolik. Es
geht um Vergangenheitspolitik, um die Deutungshoheit der Geschichte,um
das Wissen darum, wie man den Sozialismus zum Erfolg führen kann.

Die Chinesen haben vermutlich aus wohlerwogenen Gründen ihren anderen
Weg nicht verdammt, obgleich auch sie schwerwiegende Fehler erkannt
haben. Vielleicht haben sie als uralte Kulturnation einfach mehr
Respekt vor dem Alten, vielleicht aber sind ihnen auch die
schmerzlichen Folgen einer Abwendung vom Kurs rascher als anderen
deutlich geworden. Dabei haben sich die Chinesen durchaus als kritik-
und differenzierungsfähig erwiesen und sind manchen verhängnisvollen
Umweg gegangen, wie die von Rolf Berthold (in "Chinas Weg - 60 Jahre
Volksrepublik", Berlin 2009) zugänglich gemachten Dokumente erkennen
lassen. Ob ihnen der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft am Ende
glücken wird, ob die lateinamerikanischen Gegenmodelle langfristig
überlebensfähig sind, auf die wir so große Hoffnungen setzen, hängt am
Ende auch von unserer Argumentationsfähigkeit und Einsatzbereitschaft
ab.

Das opportunistische Einknicken vor den Verführungen der Macht, vor
ihrer Demagogie und ihren Tricks, vor dem - wie angedeutet - auch in
globalen Umfang vor Kommunisten nicht gefeit sind, hat aber Millionen
Menschenopfer zur Folge. Es ist deswegen an der Zeit, dass das alte
Gespenst wiederbelebt und mit neuem Geist erfüllt wird. Die alten
Errungenschaften der dem Humanismus verpflichteten Arbeiter- und
kommunistischen Bewegung müssen neu entdeckt werden. Die Zeit der
Kotaus vor den Herrschenden muss in unserem Überlebensinteresse vorbei
sein. Es führt um das Wiedererstarken der sozialistischen Kräfte zu
erreichen kein Weg vorbei am Studium der alten Quellen aus der Zeit
der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, an Quellen, in
denen die Aufbauleistung der Sowjetunion angemessen gewürdigt wird.(1)
Mit Sicherheit sind viele wertvolle Dokumente von interessierter Seite
vernichtet worden, aber andere existieren noch und sind uns
zugänglich. Wenn wir eines Tages wieder eine kommunistische Partei in
Deutschland haben wollen, die ihres Erbes würdig zu sein vermag, die
also nicht sozialdemokratischen Ambitionen erliegt, dann erscheint mir
die Befassung mit dem gesamten Erbe dafür die unerlässliche
Voraussetzung. Goethes Wort mag uns als Leitgedanke dienen: "Was ihr
ererbt von euren Vätern, erwerbt es um es zu besitzen". Im
abgrenzenden Sinne gehört dazu allerdings auch die eingehende
Befassung mit dem Phänomen Trotzkis, mit seinen Schriften, seinem
weltweiten Wirken, um davon Kenntnisse zu haben, auf wen sich seine
zahlreichen Epigonen heute berufen und mit welchen Methoden sie
gewohnt sind zu arbeiten.(2) Sich einzusetzen für die Wiedergeburt
oder das Wiedererwachen einer kommunistischen Partei, die für die
moderne Arbeiterklasse, für Kopf- und Handarbeiter, für Millionen
Angehörige des Dienstleistungsgewerbes, für das Prekariat, für die
durch kapitalistische Anwendung modernster Technologie freigesetzten
arbeitslosen Massen zu kämpfen vermag und das mit der nötigen
parteilichen Klarheit im Kopf, setzt die ganze Aneignung der
Geschichte des Sozialismus und der Ursachen für sein vorübergehendes
Scheitern voraus. Wer sich allerdings der Anstrengung umfangreicher
Lektüre und theoretisch eingehender Schulung nicht unterziehen möchte,
der kann kaum dem dafür erforderlichen Avantgardeanspruch gerecht
werden.

Anmerkungen:

(1) Stellvertretend seien hier nur etwa genannt das populäre Buch vom
"roten Bischof" von Canterbury: Hewlett Johnson, "The Socialist Sixth
of the World", London erstmals 1939, dann in 16. Auflage (!) 1942,
Victor Gollancz Verlag oder "20 Jahre Sowjetmacht - Ein Handbuch über
die politische, wirtschaftliche und kulturelle Struktur der UdSSR",
hrsg. von G. Friedrich/F. Lang, Editions Promethee Strasbourg, 1937
oder "The Great Conspiracy against Russia" by Michael Sayers und
Albert E. Kahn, special introduction by Senator Claude Pepper, first
published in New York February 1946, Boni and Gear Incorporated
Publishers, 15 East 40th Street New York 16, N.Y. deutsch erstmals
unter dem Titel Die große Verschwörung bei Volk und Welt 1949, leider
ohne das sehr wichtige Vorwort. Es handelt sich nachweislich nicht um
ein "stalinistisches Machwerk" (Steigerwald), sondern um das
Recherchewerk damals sehr populärer US-amerikanischer investigativer
Journalisten, die auch Bestseller fabriziert hatten wie "Sabotage -
the Secret War Against America" und "The Plot Against Peace". Das Buch
wurde von großen Medien wie Newsweek, Chicago News oder New York
Harald Tribune als hervorragender Beitrag zum Frieden gewürdigt - vor
Ausbruch des Kalten Krieges.

Dort wird auch anhand von überprüfbaren Quellennachweisen der
Behauptung widersprochen, Trotzki sei einem von Stalin beorderten
Auftragsmörder zum Opfer gefallen.

Als Hinweis wie am Negativ-Image von Stalin von pan-europäischer Seite
gearbeitet und der Begriff "Stalinismus" lange vor den Prozessen 1935
geprägt wurde, siehe Coudenhove-Kalergi "Stalin und Co."
Paneuropa-Verlag Wien-Leipzig, 1931

(2) Zu Trotzki siehe außer oben Sayers/Kahn auch Max Seydewitz,
"Stalin oder Trotzki" Malik-Verlag, London, 1938; Auch Feuchtwanger
"1935" oder Henri Barbusse "Stalin", Paris 1937 Editions du Carefour,
2. Sonderband der Jahresreihe 1937 der Universum Bücherei übersetzt
aus dem Französischen von Alfred Kurella; Auch Isaac Deutscher
"Stalin", eine politische Biografie 2. Auflage 196

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